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Brünner Oberbürgermeister Vokřál zieht Bilanz zum Jahr der Versöhnung

Die Stadt Brünn/Brno entwickelt sich immer mehr zum Zentrum des deutsch-tschechischen Dialogs über Fragen der Vergangenheit und der Gegenwart, womit sie an ihre multikulturelle Geschichte anknüpft. Seit zehn Jahren ist die mährische Metropole der Ort des Bünner Symposiums, zu dem die Ackermann-Gemeinde und die Bernard-Bolzano-Geschellschaft gemeinsam mit der Stadt einladen. Neue Maßstäbe in der Erinnerungskultur des Landes setzte Brünn mit dem Jahr der Versöhnung zum 70. Jahrestag desKriegsendes. Dabei erinnerte sie auch an die Verteibung der deutschsprachigen Bewohner und den sog. Brünner Todesmarsch. Der heutige Oberbürgermeister Petr Vokřál, der in der kommenden Woche München besucht, blickt auf das Jahr der Versöhnung zurück und berichtet, was davon bleiben wird.

"Unsere Stadt Brünn, als ob sie ihrer herausragenden Stellung im Zentrum Europas gerecht werden wollte, war seit jeher ein Ort, an dem Menschen dreier Kulturen nebeneinander gelebt hatten – Tschechen, Deutsche und Juden. Es war kein ideales Zusammenleben, doch im Endeffekt war es inspirierend und brachte der Stadt Fortschritt und Wohlstand. Bis heute können wir uns davon zum Beispiel bei der Besichtigung Brünner architektonischer Kleinodien überzeugen.
Es kam jedoch das tragische 20. Jahrhundert, und binnen sechs Jahren haben dann der Krieg und die Kriegshetzer das jahrhundertelange kulturelle und gesellschaftliche Gleichgewicht hinweggefegt. Die deutschen Besatzer haben aus unserem Land Freiheit und Recht vertrieben und haben das Leben Tausender von Tschechen, Juden und Roma vernichtet, unter anderem auch in unserer Stadt. Das Böse erzeugt jedoch wieder nur das Böse. Und so wurden bei der gewaltsamen Abschiebung unschuldige Menschen zum Opfer der Vergeltung für die nazistischen Verbrechen, meistens Frauen, Kinder und alte Menschen. Die Verfehlung mancher von ihnen war nur, dass sie deutsch sprachen.
Brünn hat Juden, Roma und Deutsche verloren, die die hiesige spezifische multikulturelle Atmosphäre mitgestaltet haben, und der Schatten dieser Tragödie scheint auf der Stadt bis in die heutigen Tage zu liegen. Es ist jedoch die Aufgabe der modernen Welt des 21. Jahrhunderts, den eigenen Schatten zu überschreiten und die Vergangenheit in ihrer Komplexität zu reflektieren, auch wenn sie tragisch und wenig schmeichelhaft ist.
Die Leitung der Stadt, inspiriert durch manche Brünner Persönlichkeiten aus Kultur und Politik, hat daher das Jahr 2015 zum Jahr der Versöhnung ausgerufen. Das Ziel dieses breit konzipierten Projektes war es, an das 70jährige Jubiläum vom Ende der ­Nazi-Besetzung und des Zweiten Weltkriegs durch Dutzende von Veranstaltungen zu erinnern, die auch weitergreifend waren. Die Autoren dieses Projekts ermöglichten den heutigen Brünnern, aller Opfer zu gedenken – tschechischer Widerstandskämpfer, Juden, Roma, zum ersten Mal aber auch der deutschsprachigen Bewohner von Brünn.
Das ganzjährige Programm, an dem sich mit mehr als 80 Veranstaltungen 30 Kulturorganisationen aus Brünn beziehungsweise aus Südmähren beteiligt hatten, sprach eine große Zahl der Mitbürgerinnen und Mitbürger an. Die einheimische Bevölkerung reagierte unterschiedlich – die Rückmeldungen waren positiv und auch völlig ablehnend. Im Ausland, vor allem in deutschsprechenden Ländern, überwog jedoch Begeisterung. Anerkennung hat am 20. Juni 2015 in Berlin auch der Bundespräsident Joachim Gauck ausgesprochen, der in der Reaktion auf die Deklaration zur Versöhnung der Stadt Brünn [s. Download unten] für diese souveräne Geste und für die Herstellung eines neuen Vertrauens unter den Nachbarn dankte.
Einer der Höhepunkte des Jahres der Versöhnung war die Wallfahrt der Versöhnung, die an die Opfer des sogenannten Brünner Todesmarsch vom 30. Mai 1945 erinnerte. Die Wallfahrt führte in symbolischer Geste der Versöhnung in entgegengesetzte Richtung – vom Massengrab in Pohořelice/Pohrlitz ins Zentrum von Brünn, wo die oben erwähnte Deklaration zur Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft verlautbart wurde. Sie wurde historisch das erste offizielle Dokument, das zur Abschiebung der Brünner Deutschen Stellung nimmt, verabschiedet durch den Stadtrat von Brünn. Darin wird nicht nur die Reue über die Tragödien ausgedrückt, die durch den Krieg verursacht worden sind, sondern auch die Hoffnung, dass wir, durch die Geschichte belehrt, nicht mehr zulassen, dass sich solche Tragödien wiederholen.
Durch die Rückmeldung ermuntert, haben sich die Veranstalter entschlossen, mit dem Potential, also dem nicht materiellen historischen Erbe, auch weiterhin zu arbeiten. Daher entstand das Festival „Meeting Brno“, das alljährlich im Mai die dramatischen Ereignisse vom Frühling und Sommer 1945 mitsamt der traditionellen Wallfahrt der Versöhnung, in Erinnerung ruft. So entsteht eine internationale Kultur- und Diskussionsplattform mit erzieherischem Mehrwert, vor allem an junge Menschen gerichtet. Die Erinnerungen an die unglückseligen Kriegs- und Nachkriegsereignisse, die das nachbarschaftliche Verhältnis gestört haben, sollten in einen bereichernden Dialog umgeschmolzen werden, der durch kulturelle und künstlerische Veranstaltungen zum Thema Heimatverlust und Heimatfinden geführt wird. Herzlich eingeladen sind natürlich auch Gäste aus Deutschland.
Alles, was ich hier bislang aufgeführt habe, könnte den Anschein erwecken, dass das Jahr der Versöhnung erfolgreich geendet hat, dass sogar eine Tradition geschaffen wurde, die es den Brünnern ermöglicht, durch historische Reflexion unter anderem die aktuelle Situation der Flüchtlinge in Europa besser einzuschätzen, dass sie ihnen hilft, die Flüchtlingskrise rational und ohne unnötige Hysterie wahrzunehmen. Ich war sowohl als Oberbürgermeister als auch Bürger der Stadt Brünn überzeugt, dass meine Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Einsicht und Anerkennung annehmen, dass die Stadt bereit ist, die Ankunft der potentiellen Flüchtlinge konzeptionell zu lösen, und zwar in enger Zusammenarbeit mit zentralen Institutionen und Sicherheitskräften.
Die Ereignisse im Frühjahr, in denen wir in Brünn eine Welle von irrationalem Hass gegenüber den Flüchtlingen und auch den konfliktlosen Bekennern zum Islam erlebt hatten, überzeugten mich leider, dass das Jahr der Versöhnung der Anfang war und dass es, bildlich gesprochen, zu kurz war. Dass nicht nur die Brünner, sondern das ganze tschechische Volk noch Jahre der Aussöhnung, Vergebung und des Suchens nach innerer Freiheit und Würde erwarten, die im Respekt zur Freiheit und Würde anderer ihren Ausdruck finden sollen.
Denn es gelten nach wie vor die Worte des Brünner Landsmanns und heute berühmten Schriftstellers Milan Kundera, dass Tschechen die Grenzen eher bewachen, als dass sie sie überschreiten. Gleichwohl – füge ich hinzu – haben viele Mitglieder der tschechischen Nation in nicht allzu ferner Zeit am eigenen Leib erfahren, dass es nötig ist, vor Unfreiheit und perverser Ideologie Asyl weit vor den Grenzen der eigenen Heimat zu suchen. Es ist mir unbegreiflich, dass diese schmerzliche Erfahrung heute so wenig Resonanz in Gemütern und Herzen heutiger Tschechen in Beziehung zu Flüchtlingen findet, die vor Gewalt fliehen, vor Kriegsgreueln und vor ideologischen oder rassischen Säuberungen.
Seit zehn Jahren kommen Gäste aus verschiedenen Ländern Mitteleuropas – im besten Sinn die intellektuellen Versucher – in Brünn zum „Dialog in der Mitte Europas“ zusammen. In unserer Stadt, die sich ihrer symbolischen Lage im Herzen des alten Kontinents rühmen kann, hat es sich in diesem Jahr der Kulturvielfalt und dem höchst aktuellen und beunruhigenden Thema der Migration gewidmet. Gerade in diesem Zusammenhang war es nötig, neben den rein praktischen auch tiefergreifende philosophischere Fragen zu stellen. Vor allem: Wohin steuert die europäische Zivilisation, zu welchen Visionen, zu welcher Zukunft, und wie fest sind die Werte, auf denen wir unser europäisches Selbstbewusstsein und auch das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl bauen? Denn der ursprüngliche Sinn der europäischen Integration ist das friedliche Zusammenleben vieler oft historisch verfeindeter Nationen auf der Grundlage der christlichen Humanität, Demokratie und Freiheit. Beim Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ und beim nun alljährlichen Festival „Meeting Brno“ kommen wir zusammen, damit wir sprechen, diskutieren, streiten und die Grenzen des stereotypen Denkens überschreiten. Aber vor allem, damit wir nicht schweigen. Denn die Stille ist Vorbote der apokalyptischen Reiter. Ich hoffe jedoch, dass diesen – genauso wie allen ungebetenen Gästen – die Tore unserer Stadt verschlossen bleiben."

Petr Vokřal
Oberbürgermeister der Stadt Brünn/Brno

 

Hinweis:

Am Freitag, den 17. Juni 2016, um 19.00 Uhr ist Oberbürgermeister Petr Vokřal im Tschechischen Zentrum München zu Gast. Die gemeinsame Veranstaltung des Zentrums und der Ackermann-Gemeinde steht unter dem Titel "Brünn- Eine Stadt stelt sich ihrer Geschichte. Oberbürgermeister Vokřal im Gespräch" (s.u. Flyer zum Download).

Oberbürgermeister Petr Vokřal beim Brünner Symposium 2016.