Es sind die Wellen, die uns treiben

In einem Beitrag zu der Reihe "Zur Diskussion" geht der polnische Politikwissenschaftler Wojciech Rynduch-Walecki der Frage nach, ob wir uns in Europa zwischen "Ost" und "West" in einem Kulturkampf befinden. Ein Essay aus polnischer Perspektive.

Ich wurde von einem Freund aus den alten Zeiten der Jungen Aktion der Ackermann-Gemeinde, Matthias Dörr um die Ansicht gefragt, ob (oder wie) wir uns in Europa einem Kulturkampf * befinden. Zumal insbesondere aus Ungarn und Polen der Eindruck erweckt wird, dass es in der Europäischen Union in vielen Fragen nicht um das Abwägen unterschiedlicher Positionen und um das Suchen nach einem Kompromiss geht, sondern um einen Kulturkampf. Befinden wir uns tatsächlich in einem Kulturkampf? Verlaufen hier die Gräben zwischen Ost und West oder eher innerhalb von Gesellschaften? Dieser Frage gehe ich gerne aus polnischer Perspektive nach.

Als Francis Fukuyama 1992 das Ende der Geschichte verkündete, haben wir es fast alle geglaubt. Die Zeit der politischen Vollendung ist gekommen, die große Teilung zwischen Ost und West schien vor unseren Augen zur Geschichte zu werden; Von nun an sollten wir alle die Freiheit, die Demokratie und den Wunder liberaler Marktwirtschaft miterleben. Und es galt nicht nur für uns, Osteuropäer. Diesen Enthusiasmus haben auch die westlichen Gesellschaften mitgetragen. Ein gewaltiger Umwandlungsprozess begann, eine Modernisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Es kam mit den weltweiten Prozessen der Globalisierung und Digitalisierung zusammen, es war also keineswegs nur eine für den ehemaligen Ostblock typische Nachholstunde. Wobei es für uns in der Region ein Veränderungstempo bedeutete, das vielen Menschen den Atem verschlug.

Damals hatten wir noch das große Ziel vor den Augen – Mitglied der Europäischen Union zu werden. Zum Schoß der Familie, der westeuropäischen Kultur wiederzukehren, wie es oft hieß. Damit war jede Anstrengung, jede Reform gerechtfertigt. Dass auf diesem Weg viele Menschen, ganze Gruppen oder Regionen auf dem Abstellgleis landeten, war zuerst kein Problem. Nebenschäden, „wo gehobelt wird, fallen Späne…“ Es bedürfe einer längeren Diskussion, ob man es anders machen konnte, oder wurde unter den Umständen sowieso der bestmögliche Weg gewählt. Ich glaube aber, dass damals, in den 1990ern, der Liberalismus nur in wirtschaftlicher Hinsicht und zu simpel, zu eindimensional verstanden wurde und die soziale Marktwirtschaft, die wir in Polen seit 1997 in der Verfassung stolz im Artikel 20 stehen haben, eher gefordert als gelebt haben.

Die Menschen wurden überfordert. Mit Absicht schreibe ich hier über die Menschen und nicht über „die Gesellschaft“, denn im öffentlichen Bild ging das ganze Unterfangen doch ganz schön voran, auch wenn’s hie und da hackte. Doch die Einzelnen, die das Projekt letzten Endes mit eigener Anstrengung voranbringen mussten, wurden müde. Das jahrelange Anstreben und Bestreben kostete viel.

Dann haben wir das Ziel erreicht. Seit 2004 sind wir dabei. Ab jetzt sollte eigentlich alles Paletti werden. Warum war es aber nicht so, warum tauchten dann die Krisen, eine nach der anderen auf?

Die einfache und überzeugende Erklärung kam von der Seite der Populisten. Sie hatten ja die Leichtigkeit in dem Aufzeigen der Feinde. Es waren also „die anderen“, die „nicht-WIR“: die bösen Finanzmärkte, das „Diktat aus Brüssel“ (klingt bekannt?) oder aus Berlin, die Einwanderer, das furchtbare Gender-Monster und die LGBT-Ideologie…

Dabei wird der Begriff des Kulturkampfes gerade durch die Anführer der populistischen Strömung mit Vorliebe genutzt. Und zwar nicht, um ihn als Phänomen zu beschreiben, sondern um ihn anzustiften. Um mit ihm einfache Lösungen anzubieten und von dem Gebot, ein besserer Mensch zu werden, zu befreien. „Wir brauchen keinem was beweisen müssen, wir müssen uns wehren“. In dieser Erzählung sind wir der Fels in der Brandung, eine belagerte Festung, die Vormauer des Christentums…

Die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen gleicht aber einer Wellenbewegung. Zunächst baut sich eine Welle auf, die auf das Ufer schlägt. Das Ufer gibt zwar nach, zeigt aber Widerstand, dann zieht das Wasser zurück und bildet eine neue Welle, die erneut – und etwas weiter – auf das Ufer schlägt.

Diese Beobachtung ist nicht neu und findet historisch wie geografisch viele Beweise – nehmen wir (ganz kurz und schematisch) das Beispiel der 68er Bewegung in Deutschland. Zunächst riesig, vielversprechend, dann ohne (institutionellen) Erfolg, hat sie doch mit der Zeit die Gesellschaft gewaltig verändert. Auch für die Dynamik innerhalb der „alten“ Union nach der Wende scheint dasselbe zu gelten: erst Enthusiasmus, dann die bittere Kostenrechnung und ein Rückzug (hier: die Osterweiterung; die ersten Probleme; verlorene Volksabstimmungen für die Europäische Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden). Das Phänomen Donald Trump in den USA ließe sich ähnlich erklären.

Deshalb meine ich auch, dass die populistische Gegenströmung, die wir (in Polen und anderswo) gerade erleben, diesem Wellenrückzug gleicht. Eine weitere Welle baut sich aber langsam auf, vielleicht noch nicht sichtbar, aber unvermeidlich. Die Welle kommt, ohne Zweifel. Und sie wird tiefer einschlagen, als die vorherige. Denn es war schon immer so. Wir mögen diese Wellenbewegung nicht bewusst wahrnehmen, da sie in jahrzehntelangen Interwallen erfolgt, aus einer Perspektive ist sie aber gut erkennbar.

Worauf wir achten müssen, ist dass das Ufer nicht fest verbetoniert wird. Denn dann endet der Dialog. Deshalb dürfen wir in erster Linie nicht böse sein, dass andere dem unseren Weltbild nicht folgen und diesem sogar widersprechen. Und wir müssen eine neue Erzählung finden, die der populistischen gleich attraktiv ist. Das ist nicht leicht. Doch es gelang in der Vergangenheit, so wird uns auch jetzt gelingen. Karlspreisträger Timothy Garton Ash schreibt über die neue liberale Agenda. Eine Generation wird erwachsen, die die Welt mit Grenzen nicht kennt. Die Welle bildet sich auf.

Um nun die anfängliche Fragestellung kurz zu beantworten:

Ja, wir sind inmitten eines Kulturkampfes. Dieser verläuft aber nicht zwangsläufig entlang der Linie West-Ost.

Ja, dieser Kulturkampf ist echt, obwohl künstlich angekurbelt.

Nein, er ist nicht überraschend.

Ja, er ist vorübergehend.

Wojciech Rynduch-Walecki

 

*Es ist ein begriffstechnischer Hinweis nötig: In Polen steht das deutsche Wort „Kulturkampf“ im umgangssprachlichen Gebrauch für die Bezeichnung der preußischen Politik Otto von Bismarcks der Bekämpfung der polnischen (katholischen) Kultur und Sprache auf den polnischen Gebieten unter preußischer Macht. Diesen Begriff erlernt jedes polnische Schulkind als Synonym für feindliche germanische Unterdrückung. Dies soll uns in dem hier abzuhandelnden Thema aber nicht ablenken, sei es nur ein Hinweis, dass wenn im Gespräch mit den Polen das Wort „Kulturkampf“ aus dem Mund eines Deutschen fällt, kann es unter Umständen vollkommen unerwünschte Assoziationen erwecken.