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Zehn Stationen - Argumente über die Angst vor dem Islam

Das Prinzip „Nur den Christen helfen“ ist unchristlich, es widerspricht dem Evangelium, das zur Hilfe für Bedürftige auffordert über alle ethnischen und religiösen Grenzen hinweg.“ Dies macht Professor Tomáš Halík in der aktuellen Diskussion in Tschechien zum Umgang mit Flüchtligen und dem Islam deutlich. Er bezeichnet die vom „Block gegen den Islam“ und anderen Bewegungen propagierten gängigen Urteile als „irreführend“ und fordert zu einer differenzierten Auseinandersetzung auf. Der Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie ist seit Jahren weltweit im interreligiösen Dialog aktiv. So kann er sich in seinen Beiträgen auch auf konkrete Erfahrungen und theologische Auseinandersetzungen stützen.

1. Alle gängigen Urteile über den Islam ("Den Islam wollen wir hier nicht") sind irreführend. Es ist immer erforderlich zu fragen: Welcher Islam? Der Islam hat heutzutage 1,6 Milliarden statistisch gezählte Gläubige, darunter befinden sich diejenigen, die eifrig fromm, aber auch diejenigen, die es nur halbherzig sind. Der Islam hat nicht nur die eine Autorität, den Koran als lebendiges Magisterium, sondern auch die Autorität der Sunna, die Tradition. Beide könnten und werden sehr unterschiedlich interpretiert.

2. Wenn etwas wirklich dem Islam widerspricht, dann ist es der sogenannte „Islamische Staat“, der mit dem Islam etwa so viel gemein hat, wie die irischen Terroristen, die Hexenverbrennung oder die Ketzer mit dem Christentum und dem Evangelium.

Dem Fanatismus entzog sich in der Geschichte kaum eine Religion – bis er mit dem Fanatismus und der Gewalt der atheistischen Regime des 20. Jahrhunderts überwunden wurde. Terrorismus und der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) sind eindeutig von den höchsten rechtlichen und religiösen islamischen Autoritäten (sowie auch von den tschechischen Muslimen) verurteilt geworden.

3. In Deutschland, England und Frankreich leben seit Jahrzehnten Millionen von Muslimen. Menschen vor Ort kennen sie und wissen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen mit den Schrecken des islamistischen Terrorismus nichts zu tun hat und deshalb verhält sich die Bevölkerung absolut nicht so panisch und hysterisch wie es die Tschechen tun, die in der Regel nie im Leben Muslime gesehen haben. Jedoch sind sie von den Medien und gefährlichen Populisten wie Konvičkatypo3/#_ftn1 und Okamuratypo3/#_ftn2 dauerhaft beeinflusst. Die populistischen und neonazistischen Reaktionen gegen den Islam stellen für die tschechische Gesellschaft eine viel größere Bedrohung dar als Tausende von Flüchtlingen (geschweige denn die relativ geringe Zahl der Flüchtlinge, die wirklich bei uns bleiben will).

4. Nicht alle Flüchtlinge sind Muslime. Viele von denjenigen, die aus muslimischen Ländern kommen, sind etwa so viel Muslime wie die meisten (auch getauften) Tschechen Christen sind. Einige wenden sich still vom Islam ab oder konvertieren unter dem Eindruck der christlichen Hilfe zum Christentum (manche tun das ehrlich, andere aus Konformismus). Von denjenigen, die wirklich eifrige, gläubige Muslime sind, halten viele die ethischen Regeln des Islam ein, die denen des Christentums sehr ähnlich sind. Oft überragen die Muslime sogar in ihrem Festhalten an ethischen Prinzipien (wie Ehrlichkeit im Handel, Solidarität mit den Armen, Sorge für die Familie und Ablehnung von Alkohol und Drogen, usw.) viele Christen. "Fanatische Muslime" wird es unter den Flüchtlingen nur wenige geben – solche schließen sich eher dem „IS“ an und flüchten nicht. Allerdings können wir mit unseren Reaktionen Flüchtlinge zu Fanatikern und Feinden machen.

5. Der Islam verpflichtet die Einwanderer in den nicht-islamischen Ländern, lokale Gesetze und Gebräuche strikt einzuhalten und insbesondere die "Gläubigen des Buches", das sind Christen und Juden, zu respektieren. Unter den Muslimen gibt es derzeit eine lebhafte Diskussion über den rechtlichen Sonderstatus in dem "andersgläubigen" Umfeld Europas, wo Muslime in der Minderheit sind, und der im „Fiqh“, der islamischen Jurisprudenz für Minderheiten, verankert ist. Manche der islamischen Rechtsgelehrten (die Fakihs) erlauben keine Ausnahmen (insbesondere die Saudi-Araber), während andere sehr wohl von der Flexibilität der Scharia sprechen.

Bisher haben die muslimischen Juristen noch keine Grundregel entwickelt, die dem aus dem Mittelalter stammenden jüdischen Prinzip "Dina de Malchuta Dina"typo3/#_ftn3 entsprechen würde.

Es bedeutet, dass ein lokales Gesetz zu einem Teil ihres eigenen Talmud-Gesetzes wird. Von einer erheblichen Wichtigkeit sind deshalb die aktuellen Diskussionen darüber, wie man die islamischen Gesetze mit den staatlichen in Einklang bringt. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass nachweislich die Mehrheit der Muslime in Europa das lokale staatliche Recht ganz pragmatisch respektiert und beachtet, die Religionsfreiheit schätzt und eventuell dort, wo es möglich ist, mit ihrer eigenen Vorstellung von richtigem Verhalten kombiniert.

6. Führen Einwanderer für die Tschechen die Scharia ein – wie wir täglich über das Internet gewarnt werden? Die Scharia ist ein Religionsgesetz und gilt nur für Muslime – ähnlich wie die talmudische Halacha nur für Juden gilt. Juden und Christen waren nie an die Scharia gebunden, auch nicht in muslimischen Ländern, sie haben sich an ihrem eigenen Recht orientiert. (Das von den Radikalen verlangte Territorial-Prinzip, d.h. die Gültigkeit der Scharia auf dem Gesamtgebiet des Staates, ist de facto – was ihnen allerdings nicht bewusst ist – von den europäischen Mustern der Rechtssysteme für ein Staatsgebiet übernommen.)

Es ist absurd davor Angst zu haben, dass ein paar Tausend Flüchtlinge – auch wenn alle streng orthodoxe Muslime wären – aus unserem Land ein Land des islamischen Rechtes machen würden.  Und die weiteren Generationen? Wenn sich unsere Bürger im Laufe einiger Jahrhunderte nicht mehr vermehren oder wenn sie das Christentum ganz verlassen, dann sei die Frage erlaubt, ob unser Land den Übergang in eine andere Kultur nicht auch verdient hat!

7. Vor dem Gesetz der Scharia erschrecken vor allem diejenigen, die lediglich einzelne aus dem Kontext herausgerissene Sätze aus der Boulevard-Presse kennen. Diese wenigen, aber ständig zitierten Passagen (z. B. über die Tötung von Abtrünnigen und die Unterordnung der Frauen) sind historisch bedingt und die meisten, auch der islamischen Länder, üben es nicht aus. Das ist vergleichbar mit der katholischen Kirche, die einige ältere päpstliche Dokumente verpuffen lässt:  Z. B. den Syllabus von Papst Pius IX., der die Pressefreiheit und Religionsfreiheit verfluchte – auch wenn die Kirche sich nie offiziell von diesen Dokumenten distanziert hat und fundamentalistische Katholiken sich bis heute damit brüsten.

An jenen extremen Paragraphen hängen praktisch nur salafistische Schulen in Saudi-Arabien, und auch dort nicht alle. Terroristen prahlen ganz zu Unrecht mit dem Koran und der Scharia, sie überschreiten sogar ihre Grundregeln (zum Beispiel: „Du darfst keinen Unschuldigen töten“).

In der heutigen zerrissenen muslimischen Welt stoßen die Meinungen einiger Fanatiker mit Gemäßigten aufeinander, die betonen, dass es nicht gerecht sei, die Scharia weiterhin nach mittelalterlichen Maßstäben auszuüben (verboten = Harám, erlaubt = Halál), sondern es soll auf die geistlichen Prinzipien des Korans gebaut werden. Diese sind Würde, Wohltätigkeit, Rücksichtnahme. Aus diesen Prinzipien entwickelt sich zum Beispiel auch ein islamischer Feminismus, der die Achtung und Liebenswürdigkeit gegenüber einer Frau hervorhebt.

Die Fundamentalisten (sowohl Muslime als auch Christen) kennen in der Regel die eigene heilige Schrift nicht bis in die Tiefe, sie zitieren lediglich aus dem Zusammenhang gerissene Sätze.

8. Wenn Flüchtlinge Hass ausgesetzt werden, ist es wichtig zu begreifen, dass Herren wie Konvička, Okamura, aber auch Zemantypo3/#_ftn4, Klaustypo3/#_ftn5 und weitere sie dadurch in die Arme islamistischer Fanatiker treiben. Die Kirche macht endlich eine lobenswerte Arbeit (die Gesellschaft kann daran auch die positiven Folgen der Kirchenrestitution erkennen), in dem sie den Bedürftigen hilft und sie zu einer guten Integration in die Gesellschaft motiviert, für die sie dann zum Vorteil werden. Die Kirche zeigt somit die Bereitschaft, einen großen Teil der Fürsorge für Flüchtlinge zu übernehmen. Falls diese aber in einsamen Pfarrhäusern einer psychischen (und vielleicht auch physischen) Lynchjustiz von „Christen“ ausgesetzt sind, werden zukünftige Terroristen erzogen!

9. Die Aussage „Wir nehmen nur Christen an“, ist dumm. Womit „verdient“ es - im Vergleich zu Österreich und Polen - ausgerechnet die Tschechische Republik, die stolz erklärt, das atheistischste Land auf der Welt zu sein, nur Christen aufnehmen zu können? Werden sich die Christen aus Syrien bei uns wirklich unter ihresgleichen fühlen? Die Christen aus dem Nahen Osten werden sich über das „Christsein“ in der Tschechischen Republik sehr wundern, wo sie sich angeblich problemlos adaptieren sollen. Und wo ist die Garantie, dass es mit Christen weniger Probleme geben wird als mit Muslimen – kann man es so generalisieren? (Bei meinen Reisen auf sechs Kontinenten habe ich eine hohe Moral der Muslime und eine sehr problematische in „katholischen Ländern“ kennengelernt – ich wurde  z.B. im Vergleich zu Italien nie in muslimischen Ländern bestohlen.)  

Das Prinzip „Nur den Christen helfen“ ist unchristlich, es widerspricht dem Evangelium, das zur Hilfe für Bedürftige auffordert über alle ethnischen und religiösen Grenzen hinweg. (Dies wird verteidigt als Zugeständnis an die tschechische Xenophobie: „An Christen werden sich die Tschechen besser gewöhnen und dann werden sie auch Muslime akzeptieren.“ Wenn ich aber in den sozialen Netzwerken die grässlichen Beiträge an die Adresse aller Religionen lese, bezweifle ich, ob die Tschechen dem Christentum gegenüber tolerant sind – auch wenn sich auf einmal viele dazu bekennen. Dabei stört es nicht, dass sie das „Vater unser“ oder  die „Zehn Gebote“ gar nicht kennen).

10. Steckt nicht das Hauptproblem darin, dass wir plötzlich Angst vor dem Verlust der kulturellen und geistlichen Identität haben und dass wir wahrscheinlich unbewusst bereits ahnen - ohne dass wir im Stande wären, es zuzugeben und adäquat darauf zu reagieren - dass wir als Nation und Gesellschaft diese Identität bereits verloren haben? Ist dies nicht das wirkliche Problem, über das wir im Zusammenhang mit der gegenwärtigen „Völkerwanderung“ nachdenken sollten?

Oktober 2015

Quelle: University of Notre Dame/Matt Cashore