Robert Harris: München. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller, Heyne Verlag München 2017, 432 Seiten, ISBN 978-3-453-27143-2, € 22,00.
Feuerzeichen am Himmel
Aus der Unzahl von Veröffentlichungen zum Thema 1938 greife ich dieses Buch heraus, das uns Heutigen den Ablauf der Ereignisse, die handelnden und die leidenden Menschen, ja die damals drohende Katastrophe wieder nahebringen kann und zum Überdenken eigener Positionen und Urteile anregt, ja sogar aufregt!
Der vielbelesene Journalist, Romanautor und von „München 1938“ faszinierte Engländer Robert Harris in seinem in „Tag 1“ bis „Tag 4“ gegliederten Realfiktionsroman „München“, von dem er in einem Interview 2017 sagte: Es „beschäftigt mich seit mehr als 30 Jahren“. Das zeigt auch seine umfangreiche Literaturliste zum Thema. Der bedeutungsschwere Sommer 1938, als Hitler bereits auf einen Krieg zusteuerte und der englische Premier Chamberlain laufend verhandelte, sogar nach Berchtesgaden reiste. Harris konzentriert sich auf die drei Münchner Verhandlungstage, „den kürzest möglichen Zeitraum“ und entwickelt einen Spannungsbogen zwischen zwei Hintergrundakteuren im diplomatischen Dienst, dem deutschen heimlichen Hitler-Gegner von Hartmann und dessen Gegenpart, dem Downing-Street-Mitarbeiter Hugh Legat; die Studienfreunde wollen den drohenden Krieg vermeiden. Harris beschreibt einerseits die Chronologie des Ablaufs, andererseits in fiktiven persönlichen Gesprächen und Äußerungen der Personen deren Motive oder Funktionsaufträge, die persönlichen Motive, das Privatleben, den verdeckten Informationsaustausch, die charakterliche Zeichnung des kriegsversessenen „Führers“ und des um fast jeden Preis friedensbemühten Chamberlain. Für den politisch hochinteressierten Autor Harris reizte die Münchner Konferenz vor allem deshalb, „weil sie in Wahrheit das genaue Gegenteil dessen war, was die meisten Leute“ glaubten; seine Grundeinstellung bestimmt sein politisches Urteil, die Welt politischer Leitfiguren „voller gewalttätiger Psychopathen“ zu sehen und ihnen um „Frieden und Ordnung“ bemühte Männer wie den Römer Cicero, aber auch Chamberlain entgegenzuhalten nach Harris‘ Maxime: „Die einzige Regel, die ich mir gegeben habe, ist die, den Kern der Wahrheit nicht zu verfälschen ...“. Ein spannungsvolles Buch!
Dr. Otfrid Pustejovsky