Das Haus Europa

In der aktuellen Zeitschrift "Der Ackermann" (Heft 3-2017) ergreift der ehemalige bayerische Europaminister Eberhard Sinner in der Rubrik "Zur Diskussion" das Wort und hält ein Plädoyer für einen Ausbau des "Hauses Europa". Überschrieben hat diesen Beitrag die Redaktion mit dem Titel "Das Haus Europa. Es schützt, wenn wir es schützen".

Gerade komme ich von einer Reise mit dem Wohnmobil entlang der Ostseeküste von Rostock bis nach Klaipeda zurück. Wir mussten nicht ein einziges Mal den Pass vorzeigen, konnten in Litauen mit Euro zahlen, trafen Einheimische und Touristen aus vielen Ländern, die sich freundschaftlich und friedlich begegneten. Im Schengenraum funktionieren das Reisen und der Austausch wie zwischen Bayern und Hessen.

Als Reiselektüre las ich Alexander Solschenizyns „August 1914“, das aus russischer Sicht den Beginn des Ersten Weltkrieges in Ostpreußen beschreibt. Wir kamen an der Wolfsschanze vorbei, die Bunker Adolf Hitlers sind ein Trümmerhaufen, genauso wie Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges, nur noch bewohnt von Fledermäusen. Wir besuchten das Sommerhaus von Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung und lasen die Abrechnung Thomas Manns mit dem Nationalsozialismus vom 8. August 1932.

Das christlich-jüdische Erbe Europas war auf unserer Reise genauso erlebbar wie die Gewaltexzesse, die Jahrhunderte der deutschen und europäischen Geschichte prägten. Im Jahr 1944 geboren, gehöre ich einer Generation an, die die längste Zeit eines dauerhaften Friedens in Europa erlebt hat. Diesen Frieden gab es nur auf dem Gebiet der Europäischen Union. Außerhalb der EU gibt es auch heute noch Bürgerkriege, Defizite in den Menschenrechten und die Unvollkommenheit des Rechtsstaates.

Nach dem I. Weltkrieg, dem Zusammenbruch der großen Imperien - Zarenreich, Osmanisches Reich, K.u.K.- Monarchie -, dem Entstehen neuer Nationalstaaten auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, folgte keineswegs eine friedliche Entwicklung in Europa, sondern die Eskalation der Gewalt im Zweiten Weltkrieg. Deshalb ist die Gründung der heutigen Europäischen Union ein Glücksfall in der Geschichte Europas. Die EU ist kein Staat, aber ein Verbund von Staaten, die mehr gemeinsam haben als nur ihre Grenzen, nämlich gemeinsame Werte, die in europäischen Verträgen fest verankert sind. Die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit sind das Geheimnis des erfolgreichen europäischen Projekts. Franz-Josef Strauß hat schon in den sechziger Jahren in seinem Buch „Ein Programm für Europa“ gefordert: „Wir müssen Europäer werden, um Deutsche zu bleiben.“

Kein Nationalstaat, auch nicht die Supermacht USA, kann heute seine Pflichten gegenüber den eigenen Bürgern im Alleingang erfüllen. Der 11. September 2001 hat der USA und der Welt dramatisch die Verletzbarkeit auf dem eigenen Territorium demonstriert.

Ob Jobs entstehen oder vergehen, hängt heute mehr als gestern von  Bedingungen außerhalb der nationalen Grenzen ab. Schrittmacher sind globale Innovationen. Die Europäer drohten in den sechziger Jahren in der Luft- und Raumfahrt international abgehängt zu werden. Ein europäisches Projekt wie Airbus machte Europa nicht nur konkurrenzfähig, sondern auch zum technologischen Vorreiter. Galileo macht die Europäer unabhängig von Fremdsteuerung.

Digitalisierung macht nicht an Grenzen halt. Die Regulierung digitaler Märkte und faire Wettbewerbsbedingungen gegenüber Unternehmen wie Google, Microsoft und Amazon sind nur mit europäischen Normen machbar. Nur so sind unsere eigenen Ansprüche an Datenschutz, Datensicherheit, informationelle Selbstbestimmung und Medienfreiheit zu garantieren. Die logische Folge wirtschaftlicher Zusammenarbeit in der EU war die Einführung des Euro, der mit dem Dollar auf Augenhöhe ist. Der Austausch im Binnenmarkt profitiert davon in ungeheurer Weise.

Bis zur Wiedervereinigung Europas von 1989 bis 2004 war die Attraktivität der europäischen Idee ungebrochen. Heute gibt es in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union fundamentale Kritik an der EU, jenseits des Atlantik wird eine Politik des „America first“ propagiert. Weltweit ist der Virus des Nationalismus ansteckend. Das Vereinigte Königreich hat sich durch das Brexit-Referendum von 2016 für den Abschied aus der EU entschieden.

Es gibt aber auch eine Gegenbewegung: Emmanuel Macron siegte bei den Wahlen in Frankreich mit einem proeuropäischen Programm eindrucksvoll gegen die Populisten von Rechts. Damit ist der Weg frei für eine Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit, die von Frankreich und Deutschland vorangetrieben wird. Mehr Zusammenarbeit in der Eurozone, eine gemeinsame Verteidigungspolitik, europäische Listen für das Europäische Parlament, eine europäische Afrika- und Flüchtlingspolitik können ohne blockierende Briten besser und schneller verwirklicht werden. Auch Donald Trump zwingt Europa zu einem qualitativ neuen Ansatz der Zusammenarbeit. Ähnlich wie die Schweiz und Norwegen werden auch die Briten am Binnenmarkt teilhaben können, aber ohne die Mitwirkung bei Entscheidungen. Damit gewinnt das UK keine Souveränität, es verliert Souveränität. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der EU: besser Mitbestimmung der Globalisierung mit einem Gewicht von 500 Millionen in der EU als Fremdbestimmung von außen.

Zu Europa gehört auch Russland. Wir haben vom Ost-West-Wirtschafts-Forum Bayern, dessen Vorsitzender ich bin, die Friedenskapelle auf dem Schlachtfeld von Stalingrad gebaut. Die Einweihung war am 7. September 2016. Die Friedenskapelle führt den deutschen und den sowjetischen Soldatenfriedhof in einem Dialog des lateinischen und des orthodoxen Kreuzes auf einer gemeinsamen Plattform zusammen. Das ist das „Europäische Haus“ auf dem Schlachtfeld von Stalingrad, eine gemeinsame Wertegrundlage als Basis für Technologie-, Energie- und Sicherheitspartnerschaft. Für die Menschen in Russland und in der EU elementar wichtig.

Heinrich Heine schrieb 1825: „das Eintrittsticket nach Europa ist die Taufe“, heute ist das Eintrittsticket nach Europa die Anerkennung der Menschenrechte; es geht nicht so sehr um die Geographie, die Herkunft, die Religion oder die Sprache. Bei der Einweihung der Friedenskapelle in Rossoschka unter der Schirmherrschaft von  Frank-Walter Steinmeier und Sergey Lawrow sagte Alona, eine Schülerin aus Deutschland „Mein russischer Großvater wurde von den Deutschen in Stalingrad erschossen, mein deutscher Großvater wurde von den Russen gefangen genommen und viele Jahre in Lager eingesperrt. So etwas möchte ich nicht mehr erleben. Ich möchte Frieden.“ Besser kann man die EU nicht begründen.

Eberhard Sinner

Der Autor ist CSU-Politiker und war Mitglied des Bayerischen Landtages  von 1986 bis 2013. In der bayerischen Staatsregierung war er u.a. Staatsminister für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen sowie Chef der Staatskanzlei.

Einweihung der Friedenskapelle von Rossoschka auf dem Schlachtfeld von Stalingrad am 7. September 2016 durch