„Der Eiserne Vorhang schlägt eine fette Narbe quer durch Europa“ - Themenzoom über Radtour entlang des Eisernen Vorhangs
Die außergewöhnliche inhaltliche Vielfalt der seit der Corona-Pandemie von der Ackermann-Gemeinde nun monatlich angebotenen Kultur- und Themenzooms bestätigte einmal mehr der Oktober-Zoom. Rebecca Maria Salentin, Autorin, Café-Betreiberin und Moderatorin einer Literaturshow, berichtete über ihre per Rad absolvierte Tour „Iron Curtain Trail“ vom Schwarzen Meer bis zur Barentssee. Dabei kam auch zum Vorschein, dass dies auch eine bewegende Reise durch ihre Familiengeschichte und zu ihr selbst war. Gut 60 Interessierte waren an 44 PCs zugeschaltet.
Doch diese 10.000 Kilometer lange Tour entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs im Jahr 2022 war nicht die erste Herausforderung. Drei Jahre zuvor marschierte Salentin in drei Monaten den Wanderweg „Weg der Freundschaft“ (2700 Kilometer) von Eisenach bis Budapest. Über diese Wanderung hat sie wie auch über die Fahrradtour jeweils ein Buch geschrieben. „Iron Woman“ lautet der Titel über die Radtour, die Salentin übrigens als erste Frau und zweite Person insgesamt bewältigt hat. Moderatorin Sandra Uhlich wies in ihrer Einführung aber nicht nur auf die „aufregende und mutige Fahrt quer durch ein fast vereintes Europa“ hin, sondern auch auf die Reise durch 20 Länder, über fast unpassierbare Grenzen, durch eisige Kälte und einsame Nächte, aber auch an etlichen unerwartet schönen Landschaften vorbei, durch wilde Gegenden, gespickt mit überraschenden Begegnungen und Geschichten.
Die Motivation zu diesen Touren war, dass Salentin mit 40 Jahren und zwei erwachsenen Kindern, die außer Haus waren, beruflich neu durchstarten und diesen Übergang in einer besonderen Weise zelebrieren wollte – „symbolisch zu Fuß in mein neues Leben laufen“, erläuterte sie. So kam es zur Wanderung entlang der Route „Weg der Freundschaft“ – relativ untrainiert und unvorbereitet – und danach zur Erkenntnis, beim nächsten Projekt auf das Fahrrad umzusteigen. So nahm sie sich den „Iron Curtain Trail“ vor, der aber – im Rückblick betrachtet – „eigentlich nur eine geniale Idee auf dem Papier ist. In der Realität existiert er zu großen Teilen noch nicht“, bekannte sie. Auch die Tatsache, dass zuvor lediglich ein Mensch diese Tour geschafft hat, erfuhr sie erst später. „Ich wollte einfach diesen Radweg fahren, weil es mich fasziniert hat, dass man den kompletten Eisernen Vorhang sprichwörtlich erradeln kann“, fasste sie ihre Vorüberlegungen zusammen.
Angesichts der zum geplanten Reisestart am 1. April 2022 noch winterlichen Bedingungen an der Barentssee und der Beschränkungen im internationalen Bus- und Bahnverkehr wegen Corona entschied sie sich zum Tour-Einstieg an der slowakisch-österreichischen Grenze nahe Preßburg/Bratislava. Von da ging es ans Schwarze Meer. „Der ganze Weg ist wie ein historisches Freilichtmuseum. Wenn man den Weg abfährt, dann lernt und begreift man so viel“, beschrieb sie. Exemplarisch zeigte und nannte sie die Andauer Brücke an der österreichisch-ungarischen Grenze, ehemalige Wachtürme (heute Mahnmale) und spezielle Museen.
Die Reise nutzte sie auch dazu, um über ihre eigene Familie mit einem polnischen (jüdisch) und einem deutschen Großelternpaar zu recherchieren. Im südungarischen Mohács konnte sie bei einer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag Antworten auf ganz spezifische, ihre Großeltern betreffende Fragen erhalten. Beim nächsten Tourabschnitt in Rumänien waren die besonders Fahrradfahrer jagenden Hunde (oftmals in Rudeln) das Hauptproblem – bei Salentin umso gravierender, da sie von Kindheit an Angst vor diesen Vierbeinern hat. „Es wurde nie langweilig, es gab immer etwas zu sehen und zu erleben“, schilderte sie mit Blick auf unterschiedliche Formen der Architektur, Kultur und Religionen in den 20 Ländern. Und beim Begriff „Eiserner Vorhang“ erzählten viele Menschen ihre persönlichen, oft „rührenden Familiengeschichten“ damit. Parallelen sieht sie zudem mit ihren aus Polen stammenden Großeltern, die im Jahr 1946 flüchten mussten und auf der Suche nach einer neuen Heimat viele tausend Kilometer nach Italien gingen. „Jede Person, die ich getroffen habe, hatte in irgendeiner Form eine Fluchtgeschichte in der Familie, das ist quasi eine europäische Biographie“, fasste die Vortragende diesen Aspekt zusammen.
Sehr schlecht, oft katastrophal war meistens die Qualität der Wege. Daher plädierte sie für einen Ausbau der Wege. In Bulgarien bekam sie ein Ständchen von einem Frauentrio als Morgengruß, auch wenn die Kommunikation mit den drei Damen eher schwierig war. Immer wieder gab es von Personen, die sie traf, Einladungen zum Essen oder Übernachten. Sie sah aber auch Gebiete mit weit mehr Eselskarren als Autos. „Die Region des Eisernen Vorhangs ist zum Teil eine sehr einsame Gegend. Das Niemandsland kann man zwar betreten, aber links und rechts herrscht viel Armut, Abwanderung und Verfall. Der Eiserne Vorhang schlägt eine fette Narbe quer durch Europa“, charakterisierte sie diesen Teil.
Auf dem Balkan – entlang der von Flüchtlingen genutzten Route – gab es zum einen Relikte des Eisernen Vorhangs, zum anderen die neuen Grenzbefestigungen, die jüngst erst gebaut wurden. Mit Flüchtenden kam sie ebenfalls in Kontakt, was sie an ihre Großeltern erinnerte. In Nordmazedonien war eine kurze Wanderung zum höchsten Wasserfall Südosteuropas ein Highlight, in Griechenland übernachtete sie – wie sich später herausstellte – in ihrem Zelt in einem Bärengebiet. Und der Schotterweg erforderte erhebliche Reparaturen am Fahrrad. Zwei Tage Zeit für Besichtigungen nahm sie sich in der Türkei, an der bulgarisch-türkischen Grenze – am Schwarzen Meer – war das Ziel der ersten Etappe (knapp 3000 Kilometer) erreicht.
Per Bus und 26 Stunden Fahrt ging es zurück nach Wien, von dort ist es ja nicht weit nach Bratislava. In Tschechien bzw. entlang der tschechisch-österreichischen Grenze traf sie auf viele geschliffene bzw. verschwundene Dörfer. In einem der noch erhaltenen Friedhöfe sah sie zum Teil neue Gräber von Personen, die eben dort begraben werden wollten, wo sie herstammten. „Es war sehr berührend, das zu sehen“, merkte sie dazu an. Darüber hinaus gibt es in diesem Teil des ehemaligen Eisernen Vorhangs viele Mahnmale für die zahlreichen an der Grenze getöteten Menschen. In Deutschland führt die Route an der deutsch-tschechischen, der ehemaligen deutsch-deutschen und der deutsch-polnischen Grenze entlang bis zur Ostsee. Eigentlich geht die Tour auch durch Russland, was aber wegen des damals kurz zuvor begonnenen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine nicht möglich schien. Aber Salentin wagte es trotzdem: nach Erteilung des Visums gelang es ihr, mit vielen Problemen und Hindernissen nach Kaliningrad zu kommen. Zuvor hatte sie die Etappe von Kaliningrad nach Litauen als einen der schönsten Abschnitte eingeschätzt. Aufgrund der Grenzschließung erfüllte sich das aber nicht. Das vier Wochen gültige Visum für Russland erforderte entsprechende Neuplanungen. Ein Highlight war dann aber doch die Kurische Nehrung zwischen Kaliningrad und dem südlichen Litauen. Im Baltikum war dann Zelten angesagt. Durch zum Teil sumpfige Wege ging es wieder nach Russland – St. Petersburg. Zwischen den beiden Städten bzw. deren Bevölkerung stellte sie einen großen Unterschied fest. „In Kaliningrad haben die Leute relativ offen und frei gesprochen – auch zum Krieg. In St. Petersburg haben sie sich in ihrer eigenen Wohnung umgeschaut und nur geflüstert. Die Angst, belauscht und denunziert zu werden, war hier sehr präsent“, blickte sie zurück. Im Nachhinein bewertet sie den russischen Teil der Exkursion als „sehr leichtsinnig“.
In Finnland gibt es ein Verzeichnis aller Feuerstellen – für Camper ideal. Oft sind in der Nähe auch Hütten unterschiedlicher Größe und Qualität zu finden. Aber Ende August/Anfang September war es bereits derart kalt, dass sie bitter fror – aber noch 1800 Kilometer vor sich hatte. „Von da ab war es nur noch Durchhalten und Durchbeißen. Zum Schluss gab es Schneeregen, die ganze Ausrüstung war nass, und es gab nichts mehr zu essen, weil es keine Einkaufsmöglichkeiten mehr auf dem Weg gab. Der allerletzte Abend – das war die schlimmste Nacht meines Lebens“, berichtete sie.
Ziel und Endpunkt war schließlich Kirkenes, Sitz des norwegischen Barents-Sekretariats. Einige Wochen später, als sie bereits an dem Buch über dieses Abenteuer arbeitete, erfuhr sie, dass sie die erst zweite Person und die erste Frau war, welche diese Tour bewältigt hat. Aber auch der persönlich-familiäre Aspekt war ihr wichtig. „Während der Wanderung (1999) habe ich gemerkt, dass ich teilweise mit Dingen zu kämpfen habe, die gar nichts mit meinem Leben zu tun haben, sondern mit dem meiner Vorfahren. So war es eine ganz bewusste Entscheidung, dass ich den Iron Curtain Trail fahren werde“, begründete sie auf Nachfrage von Moderatorin Uhlich den Bezug zur familiären Herkunft. Sie zitierte Winston Churchills Beschreibung des Eisernen Vorhangs von Stettin nach Triest bereits im Jahr 1946. Denn das war genau der Weg der Großeltern nach ihrer Flucht aus Polen. „Es war so faszinierend, eine Strecke abfahren zu können, auf der fast 80 Jahre vorher meine Großeltern zu Fuß auf der Suche nach einer neuen Heimat gegangen sind – mit nur dem, was sie am Leib hatten“, rief sie in Erinnerung. Nicht unerwähnt ließ sie, dass damals auf diesem Weg ihr Vater in Österreich geboren wurde. Da weder bei den polnischen noch bei den deutschen Großeltern über die Ereignisse jener vom Nationalsozialismus geprägten Jahre gesprochen wurde, ist Salentin bewusst diese Route abgefahren, um selbst darüber zu recherchieren, „Licht in die offenen Fragen zu bringen. Ich habe vieles, wenn auch nach alles herausgefunden und – besonders auf dem letzten Stück in Finnland – für mich Frieden gefunden“.
Mit folgenden Eindrücken und Sätzen fasste Salentin ihre Radexkursion zusammen: „Für mich war die Reise auf dieser Narbe, die der Eiserne Vorhang schlägt, total heilsam. Ich möchte die Regionen, durch die ich reise, so gut wie möglich kennenlernen. Ich habe noch nie so viel gelernt wie auf dieser Reise.“
Markus Bauer