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Der Mensch als Opfer

Das 20. Jahrhundert wurde durch erzwungene Migrationen und massenhafte Bevölkerungsverschiebungen geprägt. Das 21. Jahrhundert drohe nicht besser zu werden. So das pessimistische Urteil bei der diesjährigen Jahreskonferenz der Sdružení Ackermann-Gemeinde. 140 Teilnehmer aus Tschechien und Deutschland waren hierzu Ende Februar nach Prag gekommen. Das Treffen stand unter dem Thema „Der Mensch als Opfer: Massenhafte Bevölkerungsverschiebungen im 20. Jahrhundert“.

Es handle sich um ein schwerwiegendes und leider sehr aktuelles Thema, betonten die Redner schon eingangs in ihren Grußworten. Milan Šimůnek von der Konrad-Adenauer-Stiftung verwies dabei auf die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak, die in den Nachbarländern und auch in Europa Zuflucht suchen. An den Völkermord an den Armeniern vor einhundert Jahren erinnerte Matthias Dörr, Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde. Dieses Ereignis mit bis zu 1,5 Millionen Toten habe trotz der langen Zeitspanne bis heute erhebliche Auswirkungen auf das armenische Volk und auf die internationale Gemeinschaft. „Erzwungene Wanderungen hinterlassen Wunden in den Menschen, Familien und in ganzen Volksgruppen und Völkern“, betont Dörr auch mit Blick auf die Flüchtlinge und Vertriebenen von heute. „Diese bleiben nicht ohne Wirkungen und erschweren das zukünftige Zusammenleben“. Der österreichische Botschafter in Prag Dr. Ferdinand Trauttmansdorff verwies in seinem Grußwort auf die bestehenden Traumata in Mitteleuropa, die von der schmerzvollen Geschichte herrühren. Der Ackermann-Gemeinde dankte er für das Wirken, das wichtige Beiträge zur Versöhnung und Verständigung leiste.

Im 20. Jahrhundert fielen etwa 25 Mio. Menschen in Europa einem Völkermord zum Opfer. Der polnische Historiker und Philosoph Dr. Kazimierz Wóycicki von der Universität Warschau warf einen Blick auf „Europa zwischen Stalin und Hitler“. Kaum im Bewusstsein seien die hohen Opferzahlen der Verbrechen Stalins. Allein die Anzahl der unter Stalin durch gezielte Hungernot getöteten Ukrainer sei höher als die Anzahl der durch Holocaust getöteten Juden. Wóycicki machte darüber hinaus durch den Hinweis auf den bereits während des Ersten Weltkrieges an den Armeniern begangenen Völkermord im Osmanischen Reich ganz deutlich, dass bereits vor knapp 100 Jahren der Ursprung der Massenverschiebungen und gar Ausrottungen ganzer Bevölkerungsgruppen zu suchen ist, die das 20. Jahrhundert im so ungeheueren Maße geprägt hätten. Bei der Frage nach der Schuld bezog sich Wóycicki auf Karl Jaspers. Der deutsche Philosoph wies in seinem Werk direkt nach Kriegsende auf die allgemeine Mitverantwortung hin. Demnach seien nicht nur die aktiven Täter schuldig, sondern auch die schweigenden Massen, die zwar nicht selbst am Völkermord direkt beteiligt waren, aber doch gehorsam folgten. Die Geschichte mahne uns nach Wóycicki, dass es sich nicht lohne, Informationen über Böses zu ignorieren und zu hoffen, dass es nicht so schlimm werde. Die Ratschläge, „aufzugeben, um zu überleben“, seien gerade das, womit die Aggressoren rechneten. Diese Aussage wurde in der anschließenden Diskussion aufgegriffen und in Zusammenhang zum aktuellen Agieren Russlands in der Ukraine gesetzt.

Wie konnte es zu dem „Bruderkrieg“ im ehemaligen Jugoslawien kommen? Dieser Frage stellte sich der Prager Historiker Professor Jan Rychlík. Er gilt als führender Experte seines Landes zur modernen Geschichte des Balkans. Den Ausgangspunkt sieht er im Zerfall des Osmanischen Reiches und in der Entstehung der modernen Nationalstaaten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die neuen Staaten seien in der Tat jedoch meist selber Vielvölkerstaaten gewesen. Diese Tatsache habe den Keim des Ausbruches aller späteren ethnischen Kriege in diesem Raum in sich getragen. Die Nation sei ein künstliches Konstrukt und „alle Ideen aus dem Nationalismus sind absurd“. Diese könnten als politische Kategorie sehr gefährlich werden und würden allzu oft zur Begründung von Gewalt zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen. In den ethnischen Konflikten des Balkans im 20. Jahrhundert ist es nach Rychlík nicht möglich angesichts der Komplexität zwischen „den Guten“ und „den Bösen“ zu unterscheiden. Aktuell sieht Rychlík weiter zahlreiche Reibungsflächen zwischen den Völkern des Balkans. Daher solle man sich nicht so sehr darauf verlassen, dass die Auseinandersetzungen nicht mehr wieder zugespitzt werden könnten, warnt Rychlík.

Auf die moralischen Aspekte von massenhaften Bevölkerungsverschiebungen ging der Theologe Dr. David Bouma ein. Er listete eine Reihe von erzwungen Migrationen und Fällen des „ethnischen engineering“ im Laufe des 20. Jahrhunderts auf, wobei er außerhalb Europas beispielhaft auf China und Indien einging. Eine lange und depressiv stimmende Aufzählung. In allen Fällen spielten aus Sicht Boumas immer Propaganda und eine systematische Desinformation der Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle. „Es ergibt sich hier eine Verpflichtung zu einem Empfingen gegenüber Lügen und Propaganda“, mahnt Bouma. Am Anfang stünde fast immer die gleiche, nationalistische Idee der Wohlfahrt einer Nation, die in ihrem reinen Nationalstaat leben müsste. In der direkten Nachkriegszeit in seinem Land sieht er eine Zeit des „moralischen Nihilismus“. Nur so sei es möglich gewesen, unmoralische Taten zu rechtfertigen. Dabei hätte es aber immer Einzelne gegeben, die der Massenpropaganda Widerstand geleistet und Mut aufgebracht hätten. Beispielhaft nannte Bouma für die Zeit der Vertreibung der Sudetendeutschen den tschechischen Christen Přemysl Pitter und die tschechischen Bischöfe, die in ihrem Hirtenwort vom November 1945 das angewandte Prinzip der Kollektivschuld klar kritisierten. Bouma bewertet es als positiv, dass es heutzutage auf beiden Seiten zahlreiche Leute gebe, die aktiv zu besseren deutsch-tschechischen Beziehungen und dem Frieden in Europa ihren Beitrag leisten. Die anschließenden Diskussion mit Dr. Woycicki, Prof. Rychlík, Dr. Bouma und dem Sekretär der tschechischen Bischofskonferenz P. Dr. Tomáš Holub drehte sich um die Frage, welche Einstellung ein Einzelner in Extremsituationen einnehmen könne. Wie kann die Moral und das eigenes Gewissen geachtet werden ohne zugeich ein „unnötiger Held“ zu werden und die eigene Familie der Gefahr der Verfolgung auszusetzen? Holub fordert in die Ausbildung der Menschen zu investieren, damit sie widerstandsfähig gegenüber Propaganda und Manipulation würden. Einigkeit herrschte über die große Bedeutung des Mutes des Einzelnen. „Es ist weniger die schweigende Masse, sondern vielmehr eine aktive Minderheit, die die Geschichte gestaltet“, bilanziert Dr. Bouma.

Auf die massenhaften Bevölkerungswanderugen in der Gegenwart ging der Prager Historiker Dr. Michal Pehr in seinem abschließenden Vortrag ein. Dabei stehe die Frage im Raum, ob Migration eher als Vorteil oder als Gefahr für Europa verstanden werde. Nach der Meinung Pehrs werde auch Ostmitteleuropa bald wesentlich stärker als bisher von Zuwanderung betroffen sein. Die Politologin Zora Hesová von der Assoziation für Internationale Frage (AMO) in Prag erklärte die Situation im Nahen Osten. Millionen Menschen seien dort derzeit auf der Flucht, vor allem Syrer. Sie sieht die Gefahr eines neuen, großen Krieges, dessen Ziel ethnische und religiöse Säuberungen seien und der wohl auch die jetzigen Staatsgrenzen in der Region weitgehend verändern würden. „Wir stehen erst am Anfang dieses Krieges, dessen Ende in der absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist“, so Hesová pessimistisch. Auch der damit verbundene Zustrom von Flüchtlingen nach Europa werde mit aller Wahrscheinlichkeit noch stark anwachsen. Julius Kahanec von der Christlichen Solidaritätsaktion CSI widmete sich in seinem Beitrag dem Schicksal der christlichen Minderheiten im Nahen Osten. Diese gerieten nach dem sogenannten Arabischen Frühling in eine sehr schwierige Situation und ihnen drohe unter den neuen politischen Regimen eine Vernichtung. Über die Situation in der Ukraine sprach Herr P. Vasyl Slyvotskyy, griechisch-katholischer Pfarrer und Seelsorger der ukrainischen Minderheit in Prag. Er erklärte die wirklich kritischen Lebensbedingungen in der Ukraine, die eigentlich nicht nur unmittelbar mit dem Konflikt im Osten verbunden seien, sondern wesentlich tiefere und ältere Wurzeln hätten.

Die Teilnehmer der Jahreskonferenz der Sdružení Ackermann-Gemeinde feierten in der Kirche „Johannes Nepomuk auf dem Felsen“ mit dem Geistlichen Beirat P. Dr. Martin Leitgöb und weiteren Konzelebranten einen deutsch-tschechischen Gottesdienst. Am Samstagnachmittag stand zudem ein Besuch auf der Gedenkstätte in Lety (vgl. eigener Artikel) auf dem Programm. Jiří Polák sellte zudem sein Buch „Wir durften bleiben“ (Směli jsme zůstat) vor, das das Schicksal von Deutschen in der kommunistischen Tschechoslowakei behandelt. Begleitet wurde die Buchpräsentation vom Sängerchor aus dem Adlergebirge. Die Mitglieder der Sdružení Ackermann-Gemeinde versammelten sich am Rande der Jahreskonferenz zu ihrer Mitgliederversammlung. Der Vorsitzende Kulturminister Daniel Herman präsentierte dabei Eva Engelhardt als neue Geschäftführerin des tschechischen Verbandes. Unterstützt wird sie im Prager Büro von Kristýna Hlavata. Dr. Jan Heinzl, zuvor vier Jahre SAG-Geschäftsführer, hatte diese Funktion Ende Januar niedergelegt und eine neue Aufgabe in Nordböhmen übernommen.

 

Lukáš Dulíček

Das neue Team des Prager Büros<br/ >mit SAG- und AG-Vertretern.