Deutsch-Tschechische Begegnungstage setzen in Landshut Signal für Europa
„Europa 1989 – 2019. Mut zur Zukunft“ hieß das Motto der Deutsch-Tschechischen Begegnungstage der Ackermann-Gemeinde vom 1. bis 4. August in Landshut. Weit über 400 Personen – vom Kind bis zum Senior – wohnten der Veranstaltung in der Bezirkshauptstadt Niederbayerns bei. Viele kamen aus Tschechien. Die Schirmherrschaft hatten der Landshuter Oberbürgermeister Alexander Putz und der Bayerische Ministerpräsident Dr. Markus Söder übernommen.
Im Redoutensaal der Bernlochner Stadtsäle entführte am Eröffnungsabend die Landshuter Hofkapelle mit ihren Kostümen und ihrer Musik zunächst in viel weiter zurückliegende Jahrhunderte – Stichwort „Landshuter Hochzeit“. Zurück ins Jahr 1989 führten die Moderatoren des Eröffnungsabend Rainer Karlitschek und Anežka Rázková mit dem damaligen Hit „Looking for freedom“ von David Hasselhoff.
„Wir wollen miteinander gedenken und Mut machen für Europa, ein Signal setzen für ein gemeinsames, freies Europa“, stellte der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler MdEP a.D. zu Beginn seiner Begrüßung fest. Dabei wies er auch auf den europäischen Charakter der gastgebenden Stadt Landshut und die christliche Prägung der beiden veranstaltenden Verbände hin. „Die Gestaltung der deutsch-tschechischen Nachbarschaft bleibt unsere Hauptaufgabe. Wir bringen Menschen zusammen – auch das ist Europa“, sagte der Bundesvorsitzende mit Blick auf die große Zahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern – aus unterschiedlichen Regionen sowie den verschiedenen internen Gruppierungen sowohl der Ackermann-Gemeinde wie auch der Sdružení Ackermann-Gemeinde. Besonders wies Kastler auf das „Landshuter Signal für Europa“ hin, welches ein deutliches Zeichen nach außen in die Öffentlichkeit geben soll: „Wir bringen Menschen zusammen und Europa voran“, so der Bundesvorsitzende am Ende seiner Eröffnungsrede.
Auf die ersten Kontakte zur Ackermann-Gemeinde noch zur kommunistischen Zeit machte der Vorsitzende der Sdružení Ackermann-Gemeinde Daniel Herman in seiner Begrüßung aufmerksam. Der Eiserne Vorhang sei auch durch die Arbeit der Ackermann-Gemeinde durchlöchert worden, diese Aktivitäten seien die Basis für dauerhafte Versöhnung, meinte er. Dennoch seien alle – Deutsche und Tschechen, Christen und Europäer – auch künftig gefordert, „die tschechisch-deutsche Nachbarschaft braucht immer neue Impulse“. Besonders erwähnte der ehemalige Kulturminister Herman populistische und nationalistische Tendenzen, die Ängste vieler Menschen und „neue Gräben in Europa zwischen Ost und West“. Daher sei ein Dialog nötig – auch zur aktuellen Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen vor dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Werte. „Es gibt auch Menschen, die unsere Werte nicht teilen. Wir müssen am gemeinsamen europäischen Haus weiterbauen und uns gegen jeden verteidigen, der versucht, Hass zu säen“, wurde der SAG-Vorsitzende sehr deutlich. Wichtig dabei sei, diese Werte nicht nur zu pflegen, sondern sie auch zu leben. „Nur der hat eine Zukunft, der die Vergangenheit kennt, um so die Zukunft gemeinsam gestalten zu können“, schloss Herman seine Eröffnungsrede.
Auf einschlägige historische Fakten – die Hochzeit des Bayernherzogs Ludwigs des Kelheimers mit Prinzessin Ludmilla von Böhmen – wies Landshuts Oberbürgermeister Alexander Putz in seinem Grußwort hin. Aber auch darauf, dass viele Heimatvertriebene in der Region Landshut eine neue Heimat fanden. „Wir sollten uns mit den positiven Aspekten Europas beschäftigen“, mahnte das Stadtoberhaupt an.
Grüße von Botschafter Podivínský übermittelte Generalkonsulin Kristina Larischová. „Deutschland und Tschechien stehen für ein freies und offenes Europa“, bekräftigte sie in ihrem Grußwort und sprach von einem sehr guten Verhältnis der beiden Staaten. Dies beruhe auf einer vorausschauenden Politik und sei „das Ergebnis der Arbeit vieler Menschen, die sich für eine freundschaftliche Nachbarschaft einsetzen“. In diesem Kontext würdigte sie das langjährige Engagement der Ackermänner und -frauen als „solides und breites Fundament der Nachbarschaft“. Den EU-Beitritt Tschechiens vor 15 Jahren sprach die Generalkonsulin ebenfalls an, da dieser einen „Profit für die alten und die neuen Mitgliedstaaten“ gebracht habe. Den momentanen Anflügen von Skepsis und Pessimismus hielt Larischová den Wunsch entgegen, „dass es immer mehr Menschen gibt, denen es bewusst ist, dass das heutige Europa das Beste ist, in dem wir leben und das wir teilen können. Jeder von uns kann und soll zu einem gemeinsamen Europa beitragen“, schloss die Generalkonsulin ihr Grußwort.
Beim gemütlichen Plausch am Bügelbrett erzählten die Ehrengäste von ihren Bezügen zum Jahr 1989. Daniel Herman, zum Teil im Böhmerwald aufgewachsen, erinnerte sich an die Kirchenglocken von Haidmühle („ein Schwall der Freiheit“), woraus die Aufgabe entstanden sei, für diese Freiheit zu kämpfen und diese mit Leben zu füllen. Doch er ist auch davon überzeugt, dass dieser Prozess mehr als zwei Generationen dauern werde. „Jugendliche, die Unfreiheit nicht erlebt haben, erleben die Welt anders“, meinte Martin Kastler und warb daher für Gespräche mit Zeitzeugen. Seine Eindrücke in Berlin kurz nach dem Mauerfall schilderte Oberbürgermeister Putz. „Es war überhaupt nicht klar, ob es gut ausgeht“, erinnerte sich Generalkonsulin Larischová und sprach von Ängsten und Begeisterung bei den Demonstrationen im November 1989. Ähnlich äußerte sich der Erfurter Weihbischof Dr. Reinhard Hauke mit Blick auf die DDR. „Es war spannend und beängstigend, wie die Demonstration ausgehen würden“. Das große bürgerschaftliche Engagement dieser Monate hob Joachim Unterländer, Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken in Bayern, hervor und wünschte eine „Wiederbelebung dieses Geistes“. Die enge Verknüpfung der damaligen Ereignisse mit seinem Leben schilderte Dr. Petr Křížek. Er nahm im November 1989 an der Wallfahrt nach Rom zur Heiligsprechung der Seligen Agnes von Böhmen teil, lernte dort seine spätere Frau kennen, erlebte in der Heiligen Stadt auch den Mauerfall und war danach bei den Demos in Prag dabei.
Die Grüße des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder überbrachte Rainer Haselbeck, Regierungspräsident von Niederbayern. Das Treffen sei eine „beeindruckende mehrtägige Veranstaltung“, meinte Haselbeck, der auch einige Sätze des Gründers der Ackermann-Gemeinde, Hans Schütz, zitierte – vor allem im Hinblick auf den Aufbau der neuen Heimat. Die Integration sei oft ein steiniger Weg, eine „schwierige, herausfordernde Anstrengung“ gewesen. „Ohne die Heimatvertriebenen, die Sudetendeutschen wäre der Wiederaufbau nicht möglich gewesen“, zollte der Regierungspräsident Anerkennung. Aber die ursprüngliche Heimat sollte auch nicht vergessen werden. „Die Ackermann-Gemeinde zeigt, wie man im Dialog, positiv, mit kleinen und größeren Schritten Brücken in die alte Heimat schlagen kann. Die neue Heimat ist nicht nur Bayern und Deutschland, sondern auch das gemeinsame, vereinte, freie Europa“, fasste Haselbeck zusammen. Er appellierte an die Teilnehmer, die Demokratie und Freiheit zu verteidigen und positiv weiterzuentwickeln. Wichtig hierfür seien besonders grenzübergreifende Freundschaften.
Zum Thema „Europa 1989 – Europa 2019: Enttäuschte Hoffnungen?“ brachte Gräfin Róża zu Thun-Hohenstein, polnische Europaabgeordnete, als Grundlage für die anschließende Podiumsdiskussion ein Eingangsstatement. „Bestimmt gibt es Erwartungen, die nicht erfüllt wurden. Aber nicht immer ist uns bewusst, welche tolle gemeinsame Heimat wir geschaffen haben“, stellte sie einleitend fest. Der Euphorie von 1989 mit mutigen Politikern wie Havel, Walesa, Kohl, Mitterand und Delors stünden der Brexit gegenüber bzw. „Länder, die die gemeinsamen Regeln brechen“. Drei Gründe nannte sie für diese Entwicklung: eine nicht ausreichende Identifikation mit Europa und der Demokratie vor allem in den östlichen Ländern. Die Rechtsstaatlichkeit steht nicht an erster Stelle der Politik, obwohl diese Basis jedes demokratischen Systems ist. Und die Debatte gemeinsames Europa versus zwischenstaatliches Europa. Gemeinsame Projekte könnten dem entgegenwirken. Ferner fehlten eine europäische Öffentlichkeit (TV, Zeitung etc.) und eine gemeinsame Sprache. „Mit der Umsetzung und Verwurzelung konkreter Projekte wird unser Europa funktionieren – die beste gemeinsame Heimat“, schloss Gräfin Róża zu Thun-Hohenstein ihr Statement.
Moderiert von der Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Barbara Krause widmete sich die anschließende Podiumsdiskussion der Frage „Diese Werte sind für Europa wichtig“. Den universellen Charakter der Werte sprach der Theologe Dr. Tomáš Petráček ebenso an wie die Säkularisierung. Zu fragen sei, „ob diese Grundwerte ohne das grundlegende christliche Konzept bestehen können. Wenn die Wurzeln fehlen, ist zu fragen, inwieweit die Konzepte nachhaltig sind – echte Tradition oder Folklore“. Mehr transparente Projekte, vor allem Solidarität und Subsidiarität sowie Einhalten der Rechtsstaatlichkeit forderte die ehemalige bayerische Landtagspräsidentin Barbara Stamm. „Wir machen viel zu viel Negativlisten“, stellte sie fest und kritisierte die Bürokratie, bei der jedoch Deutschland oft noch „ein Sahnehäubchen draufsetzt“. Auch fragte Stamm, wie es mit der „Ehrfurcht vor Gott“ bestellt sei.
Der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist für den Landtagsabgeordneten Tobias Gotthardt die Grundmaxime, an der nie gerüttelt werden dürfe. Auch die Idee Europa dürfe nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: daran müsse man kontinuierlich arbeiten und Fehlentwicklungen korrigieren. Für Gotthardt ist wichtig, dass ein Politiker den christlichen Glauben lebt und (Alltags-)Entscheidungen mit den christlichen Grundwerten vereinbar sind. „Man muss Europa mit dem Herzen spüren können. Dann haben wir eine große Zukunft. Europa braucht das Herz und jeden Einzelnen von uns“, appellierte der Abgeordnete an die Tagungsteilnehmer. Die Solidarität (Flüchtlingsthema, Umwelt/Klima) ist für Gräfin Róża zu Thun-Hohenstein ebenso wichtig. Dabei geht es ihr auch darum, gemeinsam Lösungen zu finden und Nähe zu den Bürgern aufzubauen. Mit der jüngsten Wahl der EU-Kommissionspräsidentin sei dies nicht gut gelungen. „Demokratie kann ohne christliche Werte nicht bestehen. Aber wie praktizieren wir die christlichen Werte, dass es ausstrahlt?“, fragte die EU-Abgeordnete in die Runde.
„Europa als Garant nach innen und außen in unruhigen Zeiten – Handlungsoptionen heute“ lautete das Thema am Samstagvormittag. Zunächst gab es Statement der Direktorin der Akademie für Politische Bildung Prof. Dr. Ursula Münch und des früheren Botschafters der Tschechischen Republik in Frankreich Senator Pavel Fischer. Münch verdeutlichte, dass ab den 1990er Jahren mit jedem Integrationsschritt neue gemeinsame Regelungen gegriffen hätten und damit auf nationalstaatliche verzichtet worden sei. „Wer einen Binnenmarkt schaffen will, muss für die Beseitigung nationaler Hemmnisse sorgen. Die Mitgliedsstaaten können nicht mehr alles alleine regeln“, brachte es die Direktorin auf den Punkt. Darüber hinaus hätten die alten EG-Staaten das Ende der UdSSR bzw. des Ostblocks nicht richtig eingeschätzt. Mit der Integration der neuen Staaten habe die Heterogenität zugenommen, die Entscheidungsprozesse seien mühsamer geworden. Das Thema „Migration“ habe sich schon lange vor 2015/16 als sehr schwierig (Großbritannien ab 2004 Öffnung des Arbeitsmarktes) erwiesen. Als weiteren Aspekt nannte Münch die „strukturelle Krise der Eurozone“ bzw. die „Politik des starken Euro“. Eine gemeinsame und verbindende Idee für die Zukunftsgestaltung Europas sei verlorengegangen, die EU-Skepsis gestiegen. Deutlich machte sie, dass entsprechend der europäischen Verträge der Einfluss des Europäischen Parlaments begrenzt ist, es verschiedene Institutionen gibt und die EU nicht mit einem herkömmlichen demokratischen Staat zu vergleichen sei. Sie wandte sich auch gegen Vereinfachungen und Schwarz-Weiß-Malerei, sondern plädierte für Differenzierung. Historisch-politische Bildung sowie hohes Bürgerengagement sieht sie als Möglichkeiten zum Gegensteuern. „Europa und die EU ist nicht nur Aufgabe des Staates, sondern unser aller Aufgabe“, schloss Münch ihr Statement.
Pavel Fischer nannte in seiner Stellungnahme fünf Beispiele für die Verschlechterung der Sicherheit: die sozialen Plattformen/Medien, die seiner Ansicht nach kaum einen sozialen Beitrag leisten, sondern eher entfremden. Die Wiederaufrüstung in der Welt bzw. Verschiebung von Auseinandersetzungen in die Cyberwelt und ins Weltall. Das Eindringen technologischer Mittel in alle Lebensbereiche und ins Privatleben (alles ist online!). Militanter Islamismus. Anschläge auf demokratische Debatten in unseren Ländern bzw. Bedrohung von Demokratien von innen und außen. „Die EU hat ihre Gegner. Wir müssen sie benennen, um uns zu schützen“, sagte Fischer auch in Richtung Großbritannien (Brexit), Orban, Russland und China. Angesichts des wachsenden wirtschaftlichen Einflusses Chinas meinte der Ex-Botschafter: „Es gibt Sachen, die man nicht verkaufen kann!“ Engagierte und am Dialog interessierte Bürger könnten solchen Entwicklungen entgegenwirken, aber auch eine Begrenzung der Bedürfnisse sieht Fischer als Ansatz.
Das von Sebastian Kraftmoderierte Podium wurde mit dem Journalisten Luboš Palata und der Präsidentin der Europäischen Bewegung Dr. Linn Selle erweitert. „In Tschechien erleben wir eine Krise der EU, die Tschechen sehen die EU mehrheitlich nicht als ihre eigene Sache, sondern außerhalb“, stellte Palata fest. Er unterstrich dies mit dem Hinweis, dass die Tschechen vor allem nationalistische Politiker ins EU-Parlament gewählt haben. Daraus schloss Palata die Befürchtung, dass Tschechien – wenn sich nichts verändert – „eine ähnliche Richtung wie Polen, Ungarn oder Großbritannien“ einschlage. Die jetzige Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten zeige zum Teil schon eine „Abwendung von den demokratischen Grundlagen“. Palatas Folgerung: „Ohne eine demokratische Basis macht Europa keinen Sinn! Die positive Bedeutung der EU muss immer wiederholt werden.“ Eine Verbesserung der Demokratie in Tschechien wäre für ihn Basis für einen positiveren EU-Bezug der Tschechen. „Der Rechtsstaat und die demokratischen Strukturen in Tschechien sind in Gefahr“, so Palata abschließend. Für Dr. Selle werden die Euroskeptiker überhöht dargestellt, denn „70 bis 80 Prozent in Deutschland sind europafreundlich“. Grundsätzlich empfiehlt sie Vereinen und Verbänden, den europäischen Gedanken stärker in ihrer Arbeit zu betonen – neben den Partikularinteressen. Auch wünscht sie eine Stärkung der Rolle des EU-Parlaments. Akademiedirektorin Münch sieht einen Teilaspekt für die EU-Skepsis darin, dass die EU als ein Staat gesehen werde, was sie aber gemäß den europäischen Verträgen nicht ist. Senator Fischer verwies auf die vielen Parteien, die einen Umbau der EU fordern, und auf Viktor Orban, der meint, im Namen des Christentums zu sprechen. „Aber nicht in meinem Namen!“, widersprach Fischer und betonte die im Christentum verankerte individuelle Freiheit und Verantwortung. „Wir brauchen niemanden, der uns als Gruppe schützt“, wurde Fischer deutlich.
Bei der Feierstunde am Sonntagmorgen hielt der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Prof. Dr. Thomas Sternberg zum Tagungsthema „Europa – Mut zur Zukunft“ die Festrede. „Ich bin begeistert, was die Ackermann-Gemeinde auf die Beine stellt“, zollte er zunächst Anerkennung für die Veranstalter. In der Folge der Ereignisse von 1989/90 sei der Kulturraum Mitteleuropa deutlich erlebbar, und es werde sichtbar, „wie europäisch diese Länder sind und waren“, so der ZdK-Präsident. Mit dem Schengen-Abkommen sei dieser Raum zudem grenzenlos geworden, was das Zusammenwachsen erleichtere. Doch momentan würden, so Sternberg, Anzeichen auf eine Verschlechterung der Zustände hinweisen: Nationalismus, Brexit, rechtspopulistische und nationalistische Bewegungen usw. „Die mittel- und osteuropäischen Länder schotten sich ab. Ist die Idee eines geeinten Europas obsolet geworden?“, fragte der ranghöchste katholische Laie Deutschlands. Als mögliche Gründe nannte er die Bürokratie sowie eine „mangelhafte Medienpräsenz europäischer Politik – und die Kernfrage: Welches Europa wollen wir?“ Damit gelangte Sternberg zu wichtigen Aspekten wie der europäischen Identität bzw. dem europäischen Selbstverständnis („Wir“ - Gruppenzugehörigkeit). „Europa war nie einfach Europa. Es musste sich immer erst als Europa begreifen. Europa ist ein Raum, der sich durch Religion bzw. Kultur und Geschichte herausgebildet und sich weltweit durchgesetzt hat“, stellte Sternberg fest. Das 19. Jahrhundert (Aufkommen des Nationalismus) und besonders das 20. Jahrhundert (Ende des Kolonialismus, stärkere Bedeutung asiatischer und islamischer Kulturen) habe den bisherigen Zentralismus jedoch beendet. Dennoch habe die Kultur vielfach religiöse und christliche Grundlagen, „ohne seine religiösen Wurzeln ist Europa nicht zu verstehen“, erklärte der ZdK-Präsident. Das reiche von Übersetzungen der Bibel über Kirchenbauten (Architektur), bildende Kunst, Musik und Literatur bis hin zur Liturgie und verschiedenen Frömmigkeitsformen. „Nationale Grenzen waren und sind für die Künste nie relevant. Und religiöse Aspekte prägen die Kultur“, wies Sternberg auch auf den Aspekt „Brauchtum und Feste“ hin. Er verschwieg aber den Einfluss anderer Kulturen und Religionen nicht. „Europa war immer erfolgreich, wenn es sich offen für Fremdes und Neues zeigte und es sich aneignete. All das bestimmt die Identität Europas, sie war immer mehr als eine nationale Kultur“, fasste der Referent diesen Teilaspekt zusammen.
„Die Nationalkonstruktion war verhängnisvoll für Europa, der Glaube, das Eigene sei das Bessere“, ging Sternberg auf den Nationalismus im 19. Jahrhundert ein, der vielfach auch zu Ausgrenzungen führte. Der Referent verwies zwar auch auf visionäre, Europa als Staateneinheit beschwörende Ansätze (z.B. Novalis), die verheerenden Folgen im 20. Jahrhundert (zwei Weltkriege mit langwierigen Auswirkungen) musste Sternberg aber nicht weiter ausbreiten. Erreicht worden sei ab den 1950er Jahren eine „politische Einigung der ehemals kriegsführenden Staaten, aber die kulturelle Einheit wurde nicht bedacht“, führte Sternberg aus und verwies auf den Ausspruch des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, Europa eine Seele zu geben. „Die Berufung auf das christliche Abendland wird kaum inhaltlich gefüllt“, merkte der Referent an und zitierte Papst Franziskus, der in seiner Rede zur Verleihung des Aachener Karlspreises Europa als Kontinent, der sich abschottet, bezeichnet hat und kaum noch die alten Fähigkeiten Kreativität, Dialog und Integration zeige. Angesichts der Tatsache, dass 53,3 Prozent der Menschen in Europa katholisch sind, sei es eine wichtige Aufgabe, sich über das auszutauschen, was uns gemeinsam trägt. „Seien wir als Katholiken Motor der europäischen Einigung“, appellierte der ZdK-Präsident an die Zuhörer. Dazu gehöre auch der Dialog mit Nichtgläubigen, Fernstehenden und anderen Religionen – ohne Monopol auf richtige Antworten. „Was Sie in der tschechisch-deutschen Versöhnung leisten, könnte zu einem Muster für viele weitere übernationale Bewegungen werden! Die Seele Europas muss wiederentdeckt werden“, schloss Sternberg fulminant seine Festrede.
Markus Bauer