Die gemeinsamen Werte wieder ins Zentrum rücken
Das 22. Brünner Symposium fragte nach dem Zusammenhalt in Europa. Vor allem die auf dem Christen- und Judentum bzw. dem Humanismus fundierten Werte sowie auch die soziale Ausrichtung von Staat und Gesellschaft waren die immer wieder genannten Antworten auf die im Thema gestellte Frage „Was hält (uns in) Europa noch zusammen?“ Rund 250 Teilnehmer aus Deutschland, Tschechien, Österreich, Ungarn, der Slowakei und Polen nahmen am Palmsonntagwochenende an dieser traditionellen Tagung teil, bei der auch des im letzten Jahr verstorbenen Dr. Jaroslav Šabata gedacht und die Preisträger des 3. Europäischen Essaywettbewerbs gekürt wurden (vgl. separate Berichte). Organisiert wurde das Symposium von der Ackermann-Gemeinde und der Bernard-Bolzano-Gesellschaft.
„Es sind historische Zeiten, auch im Dialog zwischen Bayern und Tschechien“, erinnerte der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler MdEP in seiner Begrüßung an das jüngste Treffen zwischen dem bayerischen und dem tschechischen Ministerpräsidenten in München. Der Bundesvorsitzende betonte angesichts der aktuellen Vorkommnisse in Zypern die Notwendigkeit, „in dieser Krise die ehrliche Frage nach der Grundlage unseres Zusammenhalts zuzulassen. Europa ist nicht alternativlos. Wenn wir es retten wollen, müssen wir gerade der jungen Generation zugestehen, es zu hinterfragen und womöglich in Teilen neu zu begründen. Europa ist heute für viele junge Leute normal – keiner diskutiert darüber. Aber die Institution EU entspricht nicht der heutigen Lebenswelt.“ Zum Auftakt der Tagung beantwortete Kastler auch die Frage nach dem europäischen Zusammenhalt. „Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, es ist eine Wertegemeinschaft, die auf verschiedenen Fundamenten gebaut ist; die Einheit in Vielfalt ist unsere Klammer.“ Die Ängste stellte Senatspräsident a.D. Dr. Petr Pithart in seiner Eröffnungsrede in den Mittelpunkt. Daraus könne politische Manipulation entstehen, oder – historisch – Mythen. „Wir haben es nicht geschafft, in der EU einen Schirmherrn zu finden. Wir haben Angst, der Wahrheit in die Augen zu sehen“, ging Pithart auf das Tagungsthema ein. Und er erinnerte daran, dass er sich bereits 1990 als Vorsitzender der Regierung der tschechischen Republik mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl getroffen hat. „Ich bin ein Europäer“, verdeutlichte der Primator der Stadt Brünn Roman Onderka in seinem Grußwort und sah keine Alternative zur EU bzw. zur „gemeinsamen europäischen Familie“. Der deutsche Botschafter in Prag Detlef Lingemann betonte die Bedeutung Europas als „Friedensgemeinschaft“, die auch nach außen als Vorbild wirke. Die guten deutsch-tschechischen Beziehungen würden besonders vom „zivilgesellschaftlichen Austausch“ leben. „Deutschland und Tschechien profitieren als Exportnationen vom europäischen Binnenmarkt“, ergänzte der Botschafter, der die Zukunft Europas vor allem in den Bürgern sieht. Für Lingemann geht es darum, „Europa gemeinsam friedlich zu gestalten, bei aller Verschiedenartigkeit sich dem gemeinsamen Projekt Europa verpflichtet zu fühlen“. Sein österreichischer Botschafterkollege Dr. Ferdinand Trauttmannsdorff bezeichnete Europa als „unser gemeinsames Zuhause“, das aber auch wieder erkämpft werden müsse – durch Investition in die Nachbarschaft. „Die Zusammenarbeit braucht einen neuen Geist, nicht lange Projektlisten, wir müssen den Nachbarn wieder spüren, einen neuen Zugang zu Europa gewinnen“, brachte es der österreichische Botschafter in Prag auf den Punkt. Auf den im Untertitel des Symposiums („Dialog in der Mitte Europas“) genannten Aspekt „Dialog“ ging Jiří Čistecký vom Außenministerium der Tschechischen Republik ein und verwies auf den Dialog des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Nečas mit seinem bayerischen Pendant Horst Seehofer. „Der Dialog in der Mitte Europas ist für die tschechische Politik beispielgebend“, meinte Čistecký.
Das Eröffnungsreferat hielt der Vizepräsident des Deutschen Bundestages Dr. h.c. Wolfgang Thierse zum Thema „Demokratie braucht Vertrauen“. Er nannte einige aktuelle Beispiele für den Vertrauensverlust und ging besonders auf die Bedrohung der Demokratie durch die Finanz- und Bankenkrise und die Rolle von Parteien bzw. der Zivilgesellschaft für die Demokratie ein. Anstelle des Vertrauens in die Demokratie sei vielfach ein „Marktvertrauen“ getreten. „Die demokratische Politik muss die Gestaltungshoheit zurückgewinnen“, forderte Thierse und schlug vor, „dass die Finanzmärkte an den Kosten der Rettungsmaßnahmen beteiligt werden“. Als wichtigen Aspekt nannte der Referent das Gemeinwohl, für das sich Politiker einsetzen müssen. Parteien und Politiker würden ganz besonders an der „Gemeinwohlverträglichkeit“ gemessen, „sie sind ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft“, verdeutlichte Thierse und plädierte für mehr direkte Bürgerbeteiligung bzw. volksdemokratische Elemente. Er verschloss aber auch die Augen nicht vor der Tatsache, dass Europa selbst in einer Vertrauenskrise steckt, was er an der Kluft zwischen Arm und Reich, der rückläufigen Beteiligung an den Europawahlen oder auch an der ungerechten Verteilung der Lasten festmachte. Hier empfahl er das Subsidiaritätsprinzip, d.h. die Stärkung der lokalen Verantwortung. Zum Vertrauensverlust tragen laut Thierse aber auch die Medien durch negative und übertriebene Berichterstattung, Infotainment und geringe Selbstkritik bei. Die Orientierung am Gemeinwohl und der Blick auf das Soziale beinhalten für den Bundestagsvizepräsidenten auch die Europa und die Gesellschaft zusammenhaltenden Maßstäbe, Normen und Werte, d.h. das nötige ethische Fundament, für das alle Kräfte der Gesellschaft Verantwortung tragen. „Der Unterschied zu anderen Kontinenten ist bei uns die sozialstaatlich geprägte Marktwirtschaft, in der die Schwachen und Hilfsbedürftigen unterstützt, zum Subjekt von Rechtsansprüchen werden, und sie damit Würde erhalten“, fasste Thierse zusammen. Er plädierte dafür, diese soziale Dimension zu verteidigen, auch wenn der Sozialstaat nicht alles leisten könne. Der Ackermann-Gemeinde und Bernard-Bolzano-Gesellschaft dankte er für das „Demokratie vertiefende und Vertrauen bildende Engagement“.
Mit der Frage „Ist die EU von heute wirklich alternativlos“ beschäftigten sich in seinem Einführungsvortrag am Samstagvormittag der Prager Philosoph und Politiker Dr. Daniel Kroupa und die daran anschließende Podiumsdiskussion. Kroupa verwies auf euroskeptische Positionen, die – auch wegen mangelnder Demokratie – eine Auflösung der Europäischen Union beinhalten. Doch bei einem Zerfall Europas in „einzelne, egoistische Nationalstaaten“ wäre, so Kroupa, die Souveränität kleiner Staaten bedroht. Eine andere, jedoch nicht zu erwartende Alternative wäre ein „Superstaat“. Für Kroupa kann es nur eine demokratischere EU geben, was zugleich bedeutet, dass die jetzige EU transformiert und effizienter gestaltet werden muss – zum Beispiel hin zu einer gemeinsamen Steuerpolitik. Doch dies oder auch die Übergabe der Außenpolitik an die EU, eine gemeinsame Umwelt- und Friedenspolitik seien bis heute nicht möglich, weil es, so Kroupa, an gemeinsamen Werten mangelt. „Wenn wir nach der europäischen Einheit suchen, müssen wir die Einheit der Werte finden, für die es sich zu leben lohnt“, fasste der Philosoph und Politiker zusammen. Gegen die Rückkehr zum Nationalstaat sprach sich auch Dr. Vladimír Špidla, ehemaliger EU-Kommissar und heute Direktor der Demokratischen Masaryk-Akademie in Prag, aus. „Die EU ist eine Wiedererschaffung Europas, eine gute und erfolgreiche Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und wird auch eine gute Antwort auf die bevorstehenden Aufgaben sein“, meinte Špidla voller Optimismus, fürchtet aber auch neue Eskalationen und verwies auf die „globale Mission Europas“. Die Vorbildfunktion betonte auch Martin Kastler MdEP, der aber etwa die Wahl eines europäischen Präsidenten oder das Antreten europäischer Parteien für einen Traum bzw. als spannend betrachtet. Vielmehr verwies Kastler auf die Prinzipien der christlichen Soziallehre bzw. das nachhaltige Prinzip. „Wir haben in Europa viel zu stark von der Substanz gelebt. Wir wollen Europa nicht auf den Schuldenbergen, sondern auf den Hügeln der Demokratie und des Rechtsstaates bauen“, fasste der Europaparlamentarier zusammen, der auch eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik auf europäischer Basis anmahnte. Auf die unterschiedliche Interpretation der Werte machte der aus Budapest stammende Historiker Gábor Egry aufmerksam und schlug einen Dialog zum gegenseitigen Verständnis vor. Für die ungarische Gesellschaft stellte er ein eher ambivalentes Verhältnis zu Europa fest – auch „als Ergebnis eines Integrationsprozesses, der zuviel mit der materiellen, weniger mit der geistig-ideellen Seite“ zu tun hatte.
Die durchaus provokative Frage „Fällt die tschechische Gesellschaft auseinander?“ stand zum Abschluss des Symposiums am Sonntagvormittag zur Beantwortung an. Erste Fakten lieferte im Einleitungsvortrag Dr. Eliška Wagnerová, Senatorin und stellvertretende Vorsitzende des Verfassungsgerichts a.D., aus Brünn. Sie sprach im Rückblick auf die Zeit seit 1989 von Enttäuschungen infolge nicht erfüllter Erwartungen. Zudem sei Tschechien kein voller Rechtsstaat, „ein verbindendes Ideal für alle wurde nicht angeboten, der Zusammenhalt nach 1989 war zwar euphorisch, aber ohne echte Fundamente, zum Maßstab wurde der Reichtum“, so Wagnerová. Während in Deutschland die Grundrechte im Grundgesetz als Basis fixiert wurden und damit die Anerkennung der Menschenwürde, seien in Tschechien ab 1993 „stärker die Stimmen der Gegner der Grundrechte“ zum Tragen gekommen“ wie etwa Václav Klaus. „Aus Menschen sollen eindimensionale, ökonomisch messbare Einheiten werden“, beschrieb die Senatorin diese Entwicklung und bejahte die im Thema gestellte Frage. „Die tschechische Gesellschaft ist heute eine zerfallende, und die Menschen kennen zum Teil ihre eigenen Rechte gar nicht“, malte sie ein wenig schmeichelhaftes Bild vom Ist-Zustand in Tschechien. Als drängende Aufgabe empfahl sie daran zu arbeiten, „dass ein Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. Staat geschaffen wird. Sonst funktioniert es in allen drei Bereichen nicht!“
Weder einen Zerfall der Tschechischen Republik auf sozialer noch auf politischer Seite sieht Dr. Roman Joch von dem in Prag ansässigen Bürgerinstitut. Er stellt höchstens einen Zerfall zwischen Prag und dem Rest der Republik fest, wo konkret in der Regional- und Steuerpolitik anzusetzen wäre. Aber auch von einer „Abwesenheit der Werte, zwischen Pragmatismus und Zynismus“ ohne moralische Autorität sprach Joch. Auf einen Konsens bis 2004/05 verwies der Philosoph Prof. Dr. Pavel Barša. Bis dahin hätten sich die Programme der politischen Parteien nicht so sehr unterschieden, mit dem EU-Beitritt Tschechiens seien dann größere Spannungen entstanden. Hart ging er mit dem bisherigen Staatspräsidenten ins Gericht. „Václav Klaus hatte keinen Sinn für den Rechtsstaat, aber sozial und wirtschaftlich war die Politik sehr stark“. Eine ideologisch-soziale Spaltung sieht Barša erst in den letzten fünf bis sechs Jahren. Noch stärker fiel die Kritik Ondřej Matějkas von Antikomplex Prag aus. „Václav Klaus ist ein Schlüsselakteur der Spaltung in der Gesellschaft. Seine Rhetorik war einflussreicher als die politischen Taten, er hat die tschechische Gesellschaft mit einem Virus verseucht“, sagte Matějka. Aber auch Änderungen von unten seien nicht möglich, und die Situation der jungen Generation gebe ebenso wenig Anlass zur Hoffnung. „Es stehen keine Alternativen für die Zukunft des Landes parat. Aber durch Konflikte werden die Werte erst sichtbar, die für Gemeinsamkeit sprechen“, fasste Matějka zusammen.
Markus Bauer