Die Neuerfindung der Sudetendeutschen?

Gerade rund um das Pfingstwochenende mit dem Sudetendeutschen Tag werden ganz grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Der Historiker Dr. Otfrid Pustejovský plädiert angesichts der anstehenden Veränderungen für eine Neuerfindung der Sudetendeutschen ("Der Ackermann",Heft 1-2012).

Machen wir uns nichts vor: Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wird die Geschichte der Sudetendeutschen als erlebtes, mit gestaltetes und durchlittenes Geschehen in der letzten „Erlebnisgeneration“ der bis 1940 Geborenen ihren Abschluss erhalten: Donaumonarchie, 1. und 2. Tschechoslowakei, 4. März 1919, Münchner Abkommen, 2. Weltkrieg, Vertreibung werden dann endgültig in den Bereich musealen Erinnerns verschoben, vielleicht auch mit wenigen Zeilen in Geschichts- und Schulbüchern vermerkt. Erlebte Gegenwart und noch persönlich erinnerte Vergangenheit werden zur „Geschichte aus zweiter, ja aus dritter „Hand“.

Aus den medien- und publikumswirksamen „Sudetendeutschen Tagen“, den sich wiederholenden, vollmundigen Reden der Politiker aller Parteien werden immer mehr nostalgische Rückschau und freundliche Pflichterklärungen vor immer geringeren Teilnehmerzahlen. „Heimatortstreffen“ erhalten zunehmend  den Charakter von Vereinsversammlungen alter Menschen und ganz weniger Junger mit festgelegten Abläufen und noch belebten „Heimat“-Verbindungen zu den Böhmischen Ländern.

Wird damit das Ende des „Sudetendeutschtums“ prognostiziert oder gar eingeläutet? Solche Gedanken sind weder billige Polemik noch „Heimatver­zicht“. Es ist der Versuch eines realistischen Blicks in die nahe absehbare Zukunft. Aus der Geschichtsbetrachtung der vergangenen 200 Jahre kennen wir ein zutiefst menschlich begründetes    Vergessenkönnen oder Vergessenwollen, eine „Gedächtnisschwäche“, die aber gleichzeitig oft schmerzlindernde Befreiung sein kann. Welche Rolle spielen etwa heute noch die „Völkerschlacht“ bei Leipzig, das Abschlachten bei Königgrätz 1866, das Ende der Donaumonarchie 1918, ja selbst für die heute erst Vierzigjährigen die gewaltigen Völkerverschiebungen nach 1939?

Dies lässt sich alles recht genau, oft auch nur vordergründig oder rekonstruktiv mit den Methoden der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Geschichtsforschung belegen und begründen sowie seit relativ kurzer Zeit durch psychotherapeutische Diagnosen in Bezug auf gesamtgesellschaftliches Verhalten untersuchen. Doch ist damit noch nichts bezüglich des über sich selbst hinausweisenden Wesens des Menschen ausgesagt: Von der Suche des Volkes Israel nach dem „Gelobten Land“ bis zur heutigen „Heimat“-Diskussion haben Menschen und Völker stets und immer wieder von neuem gefragt, mit ihrem Schicksal gehadert, Schuld beschrieben und Hoffnung gehegt.

Spiegelbildlich haben auch die Deutschen in den Böhmischen Ländern den Verlust der „Heimat“ Donaumonarchie beklagt, die „Wanderschaft“ 1. Tschechoslowakei mehrheitlich als Last empfunden und sich dann in vordergründiger Hoffnung dem „Erlösungswerk“ eines eher teuflischen Vereinnahmungsgeheuls irrig aufgefasster Sprach- und „Volks“einheit ergeben – und das endete in der Zerstreuung, im „Exil“.

In den vergangenen 150 Jahren haben sich die deutsch sprechenden Einwohner der (späteren) Tschechoslowakei immer mehr von den „Ewigkeitsbestimmungen“ theologischer Antwortsuche weg gewandt und wandelbaren sowie vielfach gewandelten Ideologien leichtfertig angebotener „Befreiungslehren“  zugewandt: von der „Los-von-Rom“-Be­wegung eines Ritters Schönerer über die realitätsfernen Vorstellungen eines Lodgman-von Auen, die emotionsbeladenen Reden auf Sudetendeutschen Tagen bis hin - ja sagen wir‘s doch offen! - zu mancher Predigt auf so manchem „Heimattreffen“, da „Heimat“ zur theologisch verbrämten Floskel gemacht wurde und „Nation“, „Sudetendeutschtum“, „Heimat“ als verabsolutierte Vorstellung wie ein Vorhof zum göttlichen Paradies erschienen.

Damit will ich jedoch keineswegs den guten Willen und so manche ehrliche Gutgläubigkeit Hunderttausender Menschen diskreditieren, ebenso nicht die unzähligen tätigen Beweise echter Hilfe für die durch die Diktatur Verfolgten und schließlich in den beiden letzten Jahrzehnten den umfassenden Beitrag etwa zur Wiederherstellung von Kirchen, Friedhöfen, Kulturdenkmälern in den Böhmischen Ländern. In einer immer stärker entchristlichten mitteleuropäischen Gesellschaft, welcher Sprache und Staatlichkeit auch immer, werden solche Verhaltensweisen in absehbarer Zeit wohl auch „Geschichte“ sein.

Sollen wir uns mit solchen Negativperspektiven begnügen? Mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Großideologie gibt es entweder die grundsätzliche Möglichkeit einer hoffentlich auch theologisch-religiös be­gründeten Neubesinnung - aber die ist ein europaweites Problem - und einer ebenso fundamentalen politisch-historischen „Neuerfindung“ der Sudetendeutschen auf der Grundlage einer wirklich besonderen Kulturleistung im Laufe fast eines ganzen Jahrtausends in Mitteleuropa. Was wären Prag und Prachatitz, Krummau und Kaschau, Olmütz und Troppau ohne den Fleiß, die Zielstrebigkeit vieler Generationen? Sie haben keiner Kriege bedurft – im Gegensatz zu einem „modernen“ König Friedrich II. (angeblich der „Große“) – sie haben im Sicherheitssystem der vom böhmischen, polnischen und ungarischen König 1335 in Trentschin und Vyschehrad gestalteten Friedensvereinbarungen Jahrhunderte lang bauen und ernten, Dörfer und Städte entwickeln und später in die Moderne weisende Ideen und Technologien gestalten sowie verwirklichen können – ob das nun auf deutsch, tschechisch, mährisch, schlonzakisch geschah, danach wurde nicht gefragt.

So könnte eine „Neuerfindung“ der Sudetendeutschen wirklich nicht aus dem bloßen „Einheitsverständnis“ gemeinsam erlittenen Schicksals nach 1918 und insbesondere nach 1938 und vor al­lem nach 1945 entwickelt werden – vielmehr aber aus der Revitalisierung tiefen Geschichtsbewusstseins in eine politische Gegenwart hinein: Adalbert von Prag, Comenius, Johannes von Nepomuk, Johannes von Saaz, Edmund Husserl, Siegmund Freud, Professor Hahn gehören beispielsweise dazu, die mittelalterliche Wenzelskirche in Mährisch-Ostrau, die romanisch-gotische Basilika des Klosters Tepl oder die Barbarakirche in Kuttenberg, die Bergwerke von St. Joachimsthal, Přibram und Iglau, Škoda und Tatra, ebenso allerdings das Akzeptieren gewandelter Stadtsilhouetten und Dorfansichten in den vergangenen Jahrzehnten, aber auch Bemühungen jüngerer Generationen in den heutigen Republiken Tschechien und Slowakei, wirklich „neu zu sehen“ (so in „Habermann“ - der Film).

Zu alledem wird aber auch gehören müssen zu erkennen, dass manches weder historisch noch speziell „sudeten­deutsch“ war und ist: so zum Beispiel  die „Sudetendeutsche Fahne“, dass das Überstreifen einer den Alltag nicht mehr bestimmenden „Tracht“ keine wirklich ernst zu nehmende Haltung darstellt, dass der „4. März 1919“ nicht zu vordergründigen „Bekenntnis“-Veranstaltungen missbraucht wird, dass aber die Tausende von Soldaten-Opfern Deutscher aus diesem Raum einen angemessenen und würdigen Gedächtnisplatz erhalten sollten und ihrer namentlich und sichtbar an den Orten gedacht wird, von wo sie gezwungenermaßen in den 1. und vor allem 2. Weltkrieg ziehen mussten („Amts­träger“ blieben im sicheren Zuhause). Und zu allem wird dazugehören müssen: das Bewusstsein des fast tausendjährigen Zusammenlebens und Zu­sammenwirkens von Deutschen, Tschechen, Juden. Und ebenso wird dazugehören müssen: ein vernünftiges Selbstbewusstsein als Ergebnis eines sowohl intellektuellen als auch wirtschaftlichen und politischen Beitrags zur mitteleuropäischen friedlichen Entwicklung in den vergangenen 60 Jahren: ohne Teltschik wohl keine so friedliche Entwicklung vor und nach 1989, ohne Josef Stingl keine ausgewogene Arbeitsvermittlung, ohne Professor Hahn keine derartige VW-Er­folgsgeschichte und Zusammenarbeit mit Škoda, ohne das geschickte Wirken von Götz Fehr kein auch nur annähernd so wirkungsvolles intellektuelles Hineinwirken in den „Ostblock“ durch „Internationes“, ohne Hans Schütz und Wenzel Jaksch vielleicht nur ein eingeschränkter Blick auf die östlichen Nachbarn und schließlich ohne den „Räuber Hotzenplotz“ ein tiefes Loch in der deutschen Jugendbuchliteratur.

Den Jüngeren und Jungen muss endlich der Platz zur selbst gewählten Zukunftsgestaltung eingeräumt werden: ohne of­fene oder unterschwellige negative Unterstellungen - „Heimatverrat“, „Ver­zichtshaltung“, „Paktieren mit den anderen ...“, „Totengräber des Sudetendeutschtums“ (was bedeutet eigentlich das „-tum“?) und dergleichen mehr.

Nie im Verlauf menschlicher Geschichte hatten Reiche Ewigkeitsdauer, zu keiner Zeit hatten Stämme und Völker unveränderten oder nicht veränderbaren Bestand, nie waren Grenzen festgefügte Ewigkeitslinien, ja selbst Familien und Einzelpersonen haben sich „verändert“, sind andere geworden, haben Sprache und Lebensgewohnheiten umgewandelt, auch Religion und Kirche haben sich verändert.

Die „Neuerfindung“ der Sudetendeutschen wird innerhalb eines tiefgreifenden europäischen Veränderungsprozesses vor sich gehen, sie wird keineswegs eine Neuauflage der vier bis fünf Generationen hindurch erlebten Gemeinsamkeit werden, sondern den persönlichen und politischen Gestaltungswillen kommender Generationen widerspiegeln – vielleicht und hoffentlich doch im Geiste der Friedensbotschaft Jesu und gemäß dem „Prinzip Verantwortung“ (Hans Jonas) für eine „offene Gesellschaft“ (Karl Popper).

Dr. Otfrid Pustejovsky

Zahlreiche Reaktionen hat der Artikel bereits hervorgerufen. Prof. Dr. Kurt Heißig hat seine Antwort auf Dr. Otfrid Pustejovsky überschreiben mit Leitet Herunterladen der Datei ein"Wert und Weg der sudetendeutschen Zukunft" (Download).

Was bleibt von den Sudetendeutschen?