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Die Vergebung haben wir in der „Arbeitsbeschreibung“

Interview mit Msgr. Anton Otte

Auch für einen Gläubigen ist es nicht immer leicht den anderen um Verzeihung zu bitten oder ihm zu verzeihen

 

Vor seiner Abfahrt nach Deutschland hat er mich bereitwillig im Prager Emmauskloster, im Büro der Ackermann-Gemeinde empfangen, wo er seit 1991 oft zum „Amtieren“ hinfährt. Im Laufe des Gesprächs versuchte ich wenigstens die Andeutung eines Konfliktes, eines Funkensprühens einzufangen...vergeblich.

Pater Anton Otte ist liebenswürdig, versöhnlich und versöhnt. Das ist angeblich vor allem der mütterlichen Erziehung zu verdanken.

 

Wie würden Sie die Bewegung in den Beziehungen zwischen den tschechischen und deutschen Nachbarn während der letzten 15 Jahre charakterisieren?

Wir sind schon anderswo als im Jahre 1991. Ich denke, dass der größte Beweis dafür die letzten Wahlen in Tschechien sind, bei denen diese Frage gar keine Rolle mehr spielte. Und es gibt so viele andere Beispiele, wo es zu einer gegenseitigen Verständigung kommt. Ganz wichtig sind die Partnerschaften, die zwar oft auf der offiziellen Ebene stattfinden, auf der Ebene der Bürgermeister, Stadträte, Lehrer, aber sie sind sehr nützlich. Es kommt aber auch zu Begegnungen der heutigen Bewohner mit den Einheimischen. Nach dem ängstlichen Begucken über den Zaun vor drei Jahren, sitzen heute bei Feierlichkeiten in Alt Zedlitz die Tschechen in einem Zelt mit den Deutschen. Jeder zwar an „seinem“ Tisch, aber wenn die Blasmusik spielt, trinkt man das eine oder andere Bier, einen Sliwowitz und schon tanzt man miteinander…Solche Beispiele wirken.
Ich denke, dass die erprobten Modelle der Partnerschaften (z.B. die Idee der Partnerstädte) es den Menschen ermöglichen sich gegenseitig kennen zulernen und so Pauschalurteile wie z.B.: Du bist ein Tscheche, ein Russe, ein Jude, ein Zigeuner, und deshalb bist du so und so... zu vermeiden. Sie können sagen: „Also gut, die Deutschen sind so und so, aber ich kenne einen Deutschen und der…“ - und das Pauschalgericht funktioniert nicht mehr.

Was war für Sie der Impuls, dass Sie sich mit der Frage der Aussöhnung von Tschechen und Deutschen zu beschäftigen begannen

Das war gerade die Begegnung mit den Menschen von der Ackermann-Gemeinde. Vor der Abfahrt nach Deutschland im Jahr 1960, hatte ich mit meinen Geschwistern Bedenken vor den vertriebenen Deutschen. Wir hatten Angst, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen werden, weil unsere Beziehung zu den Tschechen differenzierter war. Selbstverständlich haben wir uns nicht vorgestellt, dass die Sudetendeutschen in irgendwelchen Kampfeinheiten organisiert und trainiert sind, aber im Hinblick darauf, was geschehen war, erschien es uns wahrscheinlich, dass es bei ihnen zu einer Radikalisierung gekommen war. Als ich kurz nach der Ankunft den Menschen aus der Ackermann-Gemeinde begegnete, war das eine angenehme  Überraschung für mich. Sie waren sehr froh über den Kontakt mit einem Menschen, der aus Böhmen stammt, noch immer tschechisch spricht und mit ihnen tschechische Lieder singen kann. Es war eine wunderbare Begegnung mit Menschen, die darüber hinaus wie ich ähnliche Ansichten über das tschechisch-deutsche Zusammenleben hatten. Das war der fruchtbare Boden, dazu vorbereitet sich mit der Versöhnung zu beschäftigen. Die Versöhnung ist nämlich nicht so einfach, sie hat immer etwas mit Demütigung zu tun -  und wenn du dich schon demütigst und der andere dich ablehnt, dann ist das sehr schlimm. Die Menschen sind vielleicht auch deshalb nicht fähig zur Versöhnung zu gelangen, weil sie sich vor der Ablehnung fürchten. Sie fürchten sich, dass man sie nicht verstehen wird.

Die Ackermann-Gemeinde vereinigt Gläubige, Sie selbst sind ein Priester. Jemand könnte sagen: Für die ist das einfach, denn Vergebung und Versöhnung gehören zu den Fundamenten des Christentums. 

Ja, es zeigt sich, dass es den Kirchen viel besser gelungen ist sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, als anderen Teilen der Gesellschaft. Wir haben das in der „Arbeitsbeschreibung“, es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir nebeneinander stehen und der Nachbar mir die Hand zum Zeichen der Versöhnung reicht. Wir haben dazu das Sakrament der Versöhnung bestimmt und von klein auf sind wir auch daran gewöhnt um Verzeihung zu bitten. Aber ich möchte bemerken, dass das nicht automatisch funktioniert. Es gibt unter uns Gläubige, die mit der Versöhnung große Probleme haben. Ihre Verletzung ist so tief, dass sie nicht fähig sind zu verzeihen, damit müssen wir rechnen. Ich glaube, dass Gott ihnen einmal die Gnade gibt, es zu schaffen. Es gehört wahrscheinlich zu den schlimmsten Beziehungssituationen, wenn ein Mensch seine Schuld erkennt, sie loswerden möchte, es aber nicht geht. Der andere ist nicht fähig ihm zu verzeihen. Dann kann es hilfreich sein, wenn ihn ein anderer, zum Beispiel eine Gemeinschaft umarmt und sagt: „ Es ist in Ordnung, aber begreife es, er kann nicht“.

Mit Ihrer Mutter und den Geschwistern haben Sie eine Möglichkeit der legalen Aussiedlung genutzt. Warum?

Ich bin nur deshalb fort gegangen, damit ich Theologie studieren und Priester werden konnte. In Freiwaldau habe ich das Abitur abgelegt, aber danach war Schluss, dann baute ich nur noch den Sozialismus. Das Studium an der Theologischen Fakultät in Leitmeritz wurde mir verwehrt. Und zu dieser Zeit ergab sich die Möglichkeit, dass sie uns die Aussiedlung erlauben würden. Anfangs dachte ich, dass ich als Priester bald in die Tschechoslowakei zurückkehre. Ich habe mir sogar zur Priesterweihe einen Kelch herstellen lassen, der an die verfolgte tschechische Kirche erinnerte. Als ich von einem Priester Glückwünsche zur Primiz erhielt, schrieb ich ihm zurück, dass ich selbstverständlich komme, sobald es möglich sein wird. Aber es gab Momente, wo ich mir umgekehrt nicht vorstellen konnte, dass sich die Verhältnisse in der Tschechoslowakei ändern würden.

Mit welchen Gefühlen sind Sie fort gefahren? Immerhin hatten Sie doch die Erfahrung mit dem Sudetenland…

Ich bin im schlesischen Weidenau geboren, im Altvater, in einer fast rein deutschen Gemeinde, so dass es bei uns ein „typisch“ tschechisch-deutsches Zusammenleben fast nicht gab. In Weidenau lebten auf ihrem Grund nur drei tschechische Familien und die waren dort verwurzelt… Herr Jenicek, der Schmied (für Kinder eine sehr interessante Beschäftigung), weiter Herr Milšický und die Paličeks. Wir wussten, dass das Tschechen sind, aber wir haben mit ihnen deutsch gesprochen, übrigens konnte mein Freund Franta Palička noch im Jahre 1945 nicht sehr viel Tschechisch. Nach dem Krieg, als in das Altvater Gebiet tschechische Beamte und Neusiedler kamen, begannen keine schönen Zeiten. Meine Mutter war sehr fromm, wir haben zu Hause viel gebetet und gesungen. In den ersten Monaten nach dem Krieg mussten wir, wenn wir deutsche Lieder sangen, die Fenster schließen. Es belastete uns, dass wir als Kinder bis zum Jahr 1948 nicht die Schule besuchen konnten. Selbstverständlich haben wir deshalb geweint. Ich habe wahrgenommen, dass die Tschechen die Deutschen nicht mögen, aber andererseits hatte ich tschechische Freunde. Wenn jemand „die deutsche Sau“ sagte, dann hat das wehgetan. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich das damals bewertet habe, ich war ein kleiner Junge, der nicht darüber nachdachte, ob das gerecht ist oder nicht. Ich nahm es hin als Vergeltung an den Deutschen, die den Krieg verloren haben - und ich gehörte irgendwie zu dieser Geschichte, es war mein Schicksal. Wenn ich heute darüber nachdenke, war die Benachteiligung wegen unseren Aktivitäten in der Kirche bedrückender. Das tschechisch-deutsche entwickelte sich erst mit der Zeit, als ich die tschechische Schule besuchte, zuletzt war auch die Kirche tschechisch. Allerdings habe ich die deutsche Sprache bewahrt, weil meine Mutter nicht tschechisch sprach. Heute behaupte ich, dass ich während dieser Zeit ein „Böhme“ geworden bin, also ein tschechischsprachiger Deutscher. Es lag mir viel an der Zweisprachigkeit und den zweierlei Kulturen, in denen ich mich wohl fühlte.

Sie haben die Ähnlichkeit Ihrer Ansichten mit denen der Ackermann-Gemeinde erwähnt. Was haben Sie damit gemeint?

Ich weiß nicht, wie wir als Kinder darauf gekommen sind, aber mit den Mitschülern haben wir damals über die Vereinigten Europäischen Staaten gesprochen- nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika. Das war eine Hoffnung, die wir hatten, dass das Regime sich ändern muss, es können nicht immer der „Eiserne Vorhang“ und der Kommunismus existieren. Und es ist interessant, dass schon in den ersten Erklärungen der Ackermann-Gemeinde die Rede davon ist, im Rahmen von Europa eine Regelung und den Ausgleich zwischen Sudetendeutschen und Tschechen zu schaffen. In diesem Europa sollten dann Beziehungen herrschen, wie sie unter guten Nachbarn üblich sind. Übrigens im Jahre 1960 funktionierte eine Nachbarschaft schon sehr gut, nämlich die deutsch-französische. Es war eine völlige Selbstverständlichkeit, dass sich Deutsche und Franzosen gegenseitig besuchten und zusammen feierten, es vermischten sich Partnerschaften zwischen Städten und Schulen und so weiter. Bei einer solchen Verflechtung ist dann schwer vorstellbar, dass diese Menschen irgendwann aufeinander schießen würden.

Sicher eine sehr schöne Vorstellung, aber hat Sie der Balkankrieg in den 90ger Jahren nicht vernichtet?

Wegen diesem Krieg bin ich ein wenig ernüchtert, aber nicht ganz. Nach Jugoslawien bin ich in den Urlaub gefahren, nicht weit vom kroatischen Zadar habe ich sogar die heilige Messe auf Kroatisch gefeiert. Schon damals machte mich stutzig, welch ein Hass zwischen Kroaten, Serben und Bosniern herrschte. Es zeichnete sich in ihren schrecklichen Witzen, vulgären Anekdoten ab…sie hatten nicht einmal eine gemeinsame Hymne, kurz und gut, sie brachten es nicht fertig miteinander zu leben. Jugoslawien, das war ein politisches Gebilde der Tito Diktatur, in dem „die nicht bezahlten Rechnungen“ aus dem Weltkrieg geblieben sind: es gab dort die Tschetniks, die Ustascha-Bewegung und andere. Den Hass gab es hier  auch zwischen Katholiken und Orthodoxen oder Muslimen. Das alles lebte in den Menschen und es wurde möglich das im rechten Augenblick zu missbrauchen.

Wie kann man aber solchen Konflikten begegnen, oder besser gesagt, wie kann man der Möglichkeit zuvorkommen Feindschaften zu missbrauchen?

Wir wissen eigentlich nicht viel, wie mit solchen Konflikten umzugehen ist. Ich habe den Eindruck, dass ihre Lösung teilweise von einer zufälligen Fähigkeit der Verantwortlichen abhängt, aber das ist wenig. Ich erinnere mich, dass man in den siebziger Jahren über Projekte der so genannten „Friedensforschung“ sprach. Ein gutes Modell, das vielleicht einzigartig ist, stellt der Versöhnungsprozess in Südafrika dar, bei dem die Hauptrolle Nelson Mandela spielte. Ohne etwas Ähnlichem wird das heute nicht gehen, das Risiko der Konflikte ist sehr groß. Wir sollten auch offener werden und uns damit beschäftigen, was sich im Libanon, in Israel, in Palästina abspielt; wir werden viel nachdenken müssen, wie solche Probleme zu lösen sind. Trotzdem glaube ich immer noch, dass das nachbarschaftliche Zusammenleben wichtig ist und es hilft, vieles zu überwinden.

Man sagt, dass in Feindschaften nicht die Opfer des Unrechts am radikalsten sind, sondern ihre Verwandten oder sogar Menschen, die von dem Unrecht nicht direkt betroffen waren. Haben Sie die gleiche Erfahrung gemacht?

Vor einiger Zeit stand ich im Kontakt mit einer Institution, die vergewaltigten Frauen hilft. Im Hass lebten vor allem die Eltern und Verwandten der Betroffenen, was die eigentlichen Opfer betraf, hat die etwas anderes belastet. Es zeigte sich, dass ein Mensch, der von jemandem sehr verletzt wird, nicht so großen Groll zum betreffenden Täter hegt, er verspürt eher Trauer darüber, dass es geschehen ist. Wenn ich auf die vertriebenen Deutschen zurückkomme, dann habe ich manchmal den Eindruck, dass diese Menschen neben dem eigentlichen Unrecht dennoch auch etwas anderes kennen gelernt haben - zum Beispiel hat irgendein Tscheche ihnen bei der Vertreibung etwas Gutes zugesteckt oder anders geholfen. Ähnlich ist es bei Menschen, die grausames Unheil erlebt haben, zum Beispiel im Konzentrationslager. Gerade deshalb, weil sie diesen Hass auf der eigenen Haut erlebt haben, sagen sie: „ Das will ich nicht!“

Damit sich die Nachbarn das Leben zur Hölle machen,  muss nicht ein Konflikt zwischen Staaten oder Völkern entstehen? 

Ich weiß, es existiert eine Feindschaft zwischen Nachbarn, die von einer Generation zur anderen tradiert wird, aber darüber kann ich nicht sprechen, ich habe damit keine Erfahrungen. Ich kann mir ein Leben ohne Nachbarn nicht vorstellen. Mit den Nachbarn verbinde ich schon meine ältesten Erinnerungen aus den Kriegszeiten. Während der Luftangriffe trafen wir uns zum gemeinsamen Gebet und damals habe ich gelernt den Rosenkranz zu beten. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes …“- und der Tod war irgendwo um uns herum.

Jemand, der sich mit seinen Nachbarn nicht vertragen kann, schadet sich vor allem selbst. Oft verderben wir unser Leben nur deshalb, weil wir nicht fähig sind die Differenzen zu lösen, weil wir es nicht lernen. Wenn jemand einen Jungen verprügelt, dann wartet der auf eine Gelegenheit, damit er es ihm heimzahlt. Das ist das einzige, was wir können. Ich habe auch in einer Eheberatungsstelle gearbeitet und die Menschen sind gekommen, als es schon zu spät war. Und dabei wissen wir gut, wenn es uns im Hals kratzt, müssen wir etwas tun und wenn wir es rechtzeitig abfangen, wird die Grippe nicht so schwer sein. Aber in Beziehungsfragen können wir oft gar nichts tun.

Aber Ihren Klienten haben Sie sicher einen Rat gegeben?

Meine Mutter hat uns dazu erzogen, nicht im Streit oder mit Wut einzuschlafen. Ein Kuss zur Versöhnung, eine Bitte um Verzeihung, so soll es sein. Dann ist es notwendig, dass auch der andere ein Zeichen gibt, dass er verzeiht. Es soll nicht passieren, dass der Büßer noch mehr geächtet wird – das wäre dann noch schlimmer. Die Menschen sagen mir manchmal: „ Du hast es leicht, du hast eine solche Natur, du entschuldigst dich immer.“ Das ist nicht wahr! Mir tut es überhaupt nicht gut, wenn ich mich entschuldigen muss, aber ich wurde so erzogen. Immer war es für mich sehr schwer zu meiner Mutter oder zu meinem Bruder zu gehen und mich zu entschuldigen, aber wenn man es dann „hinter sich hat“, dann ist es wunderschön.

 

Ackermann-Gemeinde gegründet 1946 in München hat sich in der Frage der tschechisch-deutschen Beziehungen von Anfang an für das Prinzip der gegenseitigen Vergebung und Versöhnung ausgesprochen. Sie half nicht nur ihren Leuten, sondern auch den tschechischen Emigranten. Finanziell unterstützte sie zum Beispiel die Renovierungen der verwüsteten Kirchen in Böhmen oder den Verlag der tschechischen christlichen Literatur. Seit 1991 hat die Ackermann Gemeinde ein Büro in Prag.

 

Anton Otte

-    geb. 15.8.1939
-    1958-60    Arbeiter in Krnov
-    1960         Ausreise in die BRD
-    1967         Priesterweihe. Seitdem wirkt er als Seelsorger            
                      Gefängnisseelsorger, Lehrer usw.

-    Seit 1989  Stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Vertriebene
                       bei der Deutschen Bischofskonferenz.
-    Seit 1991   Leiter des Büros der Ackermann-Gemeinde in Prag.
-    1996          Auszeichnung mit dem TGM Orden
-    1998          Verleihung des Bundesverdienstkreuzes
-    2001          Ehrenkanoniker des Königlichen Kollegialkapitels St. Peter und
                       Paul auf dem Vyšehrad

 
Text von Dagmar Volencová, in: Caritas 6/2006, Beilage von Katolicky tydenik

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