Diskussionen über „Zwei Europas?“

Thema des abgesagten Brünner Symposiums stand beim zweiten Themenzoom im Fokus

42 eingewählte Teilnehmer aus Deutschland, Tschechien und Österreich, was aber angesichts mehrerer Ehepaare bzw. Familien weit über 50 Frauen und Männer ausmachte, zeigten am zweiten Themenzoom der Ackermann-Gemeinde am letzten Dienstag im April Interesse. Im Fokus standen die Inhalte des diesjährigen Brünner Symposiums, das vom 3. bis 5. April geplant war, dann aber aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste. Der Präsident der Bernard-Bolzano-Gesellschaft Doc. Dr. Matěj Spurný erläuterte, was bei dem Symposium mit der Thematik „Zwei Europas? Worüber und warum wir keine gemeinsame Sprache finden können“ diskutiert worden wäre.

 

Moderator Rainer Karlitschek stellte Matěj Spurný kurz in seinen Tätigkeitsfeldern als Gründungsmitglied von Antikomplex, Dozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Karls-Universität Prag und als Präsident der Bernard-Bolzano-Gesellschaft vor, die in Kooperation mit der Ackermann-Gemeinde seit vielen Jahren das Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ organisiert.

Über „viele bekannte Gesichter“ freute sich Spurný und blickte auf die Vorbereitungsphase Anfang März zurück, wo die Teilnehmerzahl von Veranstaltungen immer mehr reduziert wurde – zuletzt auf nur 30 – und dann auch die Grenzen geschlossen wurden, so dass das Brünner Symposium abgesagt werden musste. „Umso besser ist es, dass wir heute darauf zurückkommen“, freute sich der Präsident der Bernard-Bolzano-Gesellschaft. Er ging kurz auch auf die Geschichte dieser traditionsreichen Veranstaltung ein, die bereits 1992 in Iglau begann und die Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen bzw. die „Auseinandersetzung mit dem tragischen Ende der deutsch-tschechischen Geschichte“ als Hauptinhalte hatte. Hierfür sei Iglau als deutsche Sprachinsel ideal gewesen. Da die Zahl der Teilnehmer stieg, wurden hier die Hotelkapazitäten zu klein. Es erfolgte der Umzug bzw. Wechsel nach Brünn und damit auch eine Änderung in den Inhalten – weg von reinen deutsch-tschechischen Aspekten stärker hin zu europäischen Themen und durchaus mit kritischen Diskussionen. Zudem sollten das örtliche Publikum oder auch Studenten angesprochen werden, was in Brünn möglich sei. Auch lobte Spurný die Unterstützung der Stadt Brünn und der drei seither amtierenden Oberbürgermeister mit unterschiedlichen Parteizugehörigkeiten. „Nun haben wir aktuelle, mitteleuropäische Themen, wollen aber auch die Interessen und Erfahrungen der Leute, die regelmäßig kommen, berücksichtigen. Das ist der besondere Charakter der Tagung“, fasste Spurný zusammen und betonte die „sehr kultivierte Dialogkultur“ der Referenten und Teilnehmer aus verschiedenen Ländern und politischen Richtungen. Daher sei das Brünner Symposium „so wichtig, ja etwas Besonderes“.

Bei der Fragestellung des Symposiums „Zwei Europas?“ waren, so Spurný, zwei Ebenen angedacht: zum einen die geografische (Ostmitteleuropa bzw. die postkommunistischen Staaten versus alter Westen), zum anderen die Demokratie (Gefahr einer Rückkehr zu autoritären Arten der Machtausübung, Gefährdung des Rechtsstaates, Nationalismus versus liberale Demokratien). Ferner sollten auch konservative bzw. rechte Strömungen in Österreich, Deutschland, Frankreich und Großbritannien beleuchtet werden. Daraus werde auch deutlich, dass es in jeder europäischen Gesellschaft solche Trends bzw. alternativen Vorstellungen gibt, die auch Unterstützung finden – unter anderem auch wegen EU-kritischen Äußerungen. „Ein guter Teil der Gesellschaft ist eher liberal, prointegrativ und proeuropäisch“, stellte der Präsident der Bernard-Bolzano-Gesellschaft fest. Deshalb empfahl er, beide Parameter – den geografischen und die gesellschaftlichen Tendenzen – im Blick zu haben. Zum Abschluss seines Statements ging er auf das Narrativ aus dem Jahr 1989 ein, wo die Sehnsucht nach Europa stark zu spüren gewesen sei – die „Rückkehr nach Europa“: Man fühle sich eigentlich zu Westeuropa gehörig, die vier Jahrzehnte Kommunismus seien nur eine Unterbrechung gewesen. Diesen Vorstellungen stellte Spurný die Positionen von Viktor Orbán (Ungarn) und Jarosław Kaczyński (Polen) gegenüber, „die alles andere als eine Verbindung mit dem liberalen Westen“ möchten und – in unterschiedlichem Umfang – in ihren Gesellschaften Unterstützung finden. Die „Rückkehr nach Europa“ wertete Spurný letztlich als Mythos, da eine Wiedervereinigung nur in Deutschland möglich gewesen sei, ansonsten es aber – auch vor dem Zweiten Weltkrieg – kein einheitliches Europa gegeben habe. „Die Gesellschaften waren sehr verschieden, ein einheitliches Europa muss erst neu geschaffen werden“, lautete Spurnýs Fazit.

Der Diözesanvorsitzende der Ackermann-Gemeinde im Bistum Würzburg Hans-Peter Dörr fragte, ob die Eurobonds, deren Diskussion ja auch zu einer gewissen Spaltung in Europa beitragen, angesprochen worden wären. „Die hätten nicht zu den zentralen Fragen gehört, wären aber sicher dazugekommen – auch unter dem Aspekt der Skepsis gegenüber dem liberalen Kapitalismus bzw. der ärmeren Schichten, die anders wählen. Der liberale Kapitalismus wird als Ideologie de Reichen gesehen“, antwortete Spurný und wies dieser Frage eine hohe Bedeutung bei einer Beschäftigung mit dem europäischen Süden zu.

Oliver Engelhardt interessierte die unterschiedliche Präsenz des Narrativs „Rückkehr nach Europa“. In verschiedenen nationalen Milieus gebe es unterschiedliche Vorgeschichten, erklärte Spurný. Skepsis und kritisches Denken gegen den Kommunismus sei allgemein in den Ländern Mittel- und Osteuropas in oppositionellen Kreisen üblich gewesen. Nach 1968 habe sich in der Tschechoslowakei (zum Teil auch in Polen und der DDR) die Opposition verändert („Charta 77“), deren Aussage war, dorthin zurück zu wollen, „woher wir gekommen sind“, d.h. in den Westen.

Weitere Fragen beschäftigten sich mit dem geschätzten Anteil der Europskeptiker bzw.
-befürworter in Tschechien, Polen und Ungarn, mit dem Einfluss der Kulturträger (Musiker, Schriftsteller, etc. - Essay von Václav Havel „Macht der Machtlosen“) und mit den durch die Corona-Krise zwischenzeitlich neu entwickelnden Blöcken innerhalb der Europäischen Union.

Beim nächsten Themenzoom am 5. Mai um 20.15 Uhr wird Pater Dr. Martin Leitgöb CSsR, Seelsorger der Deutschsprachigen Katholischen Pfarrei in Prag, über die Arbeit und Situation der Kirche in Tschechien berichten.

Markus Bauer

Doc. Dr. Matěj Spurný bei seinen Ausführungen
Moderator Rainer Karlitschek
Hildegard und Hans-Peter Dörr beim Vortrag von Matěj Spurný