Ein eindrucksvolles Zeichen der Buße, der Vergebung und Versöhnung

Am 13. Januar erinnerte die Ackermann-Gemeinde an ihren Gründungstag vor 70 Jahren. Der Journalist Christian Ammon machte sich aus diesem mit einer Gruppe der Würzburger Ackermann-Gemeinde auf den Weg nach Nordböhmen und nahm an der Wallfahrt in Philippsdorf/Filipov und der Feierstunde in Rumburg/Rumburk teil. Seinen Blick auf das Ackermann-Jubiläum und auf die Wallfahrt bringt er in einem Artikel zum Ausdruck.

WÜRZBURG (ca) Die wilden Vertreibungen hatten schon Hunderttausende Deutsche aus ihrem Land getrieben, andere wurden in ihren Heimatstädten- und dörfern brutal massakriert und ermordet. In dem Moment, als die soeben im Potsdamer Abkommen beschlossene, geordnete Deportation der Deutschen aus der Tschechoslowakei beginnt und ein neues Miteinander der Völker unvorstellbar war, setzen eine Gruppe deutschböhmischer Heimatvertriebener ein Zeichen der Buße, der Vergebung und Versöhnung, das seinesgleichen sucht: "Auch wir haben Anteil an der Schuld, die unser Volk auf sich geladen hat. Wir bekennen und bereuen!", beten sie bei einem Treffen in der Adelgundenanstalt in dem katholischen Wohnheim im kriegszerstörten München. Es ist der 13. Januar 1946, die Geburtsstunde der katholischen Ackermann-Gemeinde. Das Sühne- und Gelöbnisgebet hat der Augustiner-Pater Paulus Sladek eigens für das Treffen verfasst.

Der Gründungstag war bewusst gewählt: In der gleichen Nacht feiern wie seit 80 Jahren Pilger in der Basilika von Philippsdorf/Filipov die Heilige Messe, um der wunderbaren Genesung der Magdalena Kade zu gedenken. Inmitten des Chaos, bei dem über drei Millionen Deutsche ihre Heimat verlieren, wird die Kirche, die nur durch die Spree von der Sowjetischen Besatzungszone getrennt ist, ein Hort der Einkehr und Ruhe. Hier hatte Magdalena Kade in einem armseligen strohbedeckten Weberhäuschen bereits ihre Sterbesakramente erhalten, als ihr im Jahr 1866 nachts um 4 Uhr die Muttergottes erscheint und verkündet: „Mein Kind, von jetzt an heilt's“. Für die Ackermann-Gemeinde wird der Ausspruch der Jungfrau zum Leitspruch.

Auch zum 150sten Jubiläum der Marienerscheinung sind es wieder Hunderte Menschen, die nach Philippsdorf, dem „Lourdes Nordböhmens“, pilgern. Darunter eine rund 100-köpfige Delegation aus Deutschland, um gemeinsam mit den tschechischen Freunden von der Sdružení Ackermann-Gemeinde das 70ste Jubiläum ihrer Gruppe zu feiern. Dicht an dicht sitzen die Menschen in der spätgotischen Basilika, manche stehen den ganzen Gottesdienst über. Deutsche und Tschechen, sie singen Marienlieder, jeder in seiner Sprache und doch vereint im Gesang. Spätestens beim Friedensgruß sind die Schranken zwischen den Nationen vergessen. „Es ist nicht Stand der Dinge, als ob nichts geschehen ist. Es ist geschehen. Und auf beiden Seiten“, stellt Bischof Jan Baxant in seiner Predigt auch nach 70 Jahren ein Bezug zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und der Zeit der Vertreibungen her. Auch in seiner Diözese Leitmeritz/Litoměřice wurde beinahe die komplette Bevölkerung ausgetauscht. Auch einige seiner Verwandten waren betroffen. Tschechen, auch sie wurden zwangsumgesiedelt – von Mähren nach Karlsbad/Karlovy Vary. Vom eigenen Haus blieb ihnen nicht mehr als die Fundamente. Und doch: „Christlicher Geist ist da, wo sich die Menschen der schmerzhaften Geschichte erinnern, sie sich aber nicht mehr gegenseitig vorwerfen“, sagt er.

Der Marienwallfahrtsort steht wie kaum ein anderer für die Versöhnung. „Die Menschen umarmten sich voller Freude. Für viele Pilger aus beiden Teilen Deutschlands war dies nach vierzig Jahren erzwungenen Exils die erste Gelegenheit, die Versöhnung mit Gott und den Menschen in der Heimat zu vollziehen“, erinnert sich etwa Marie Rut Křížková in einem Augenzeugenbericht an das Jahr 1985. Damals wurde die Madonna in der Gnadenkapelle unter den argwöhnischen Augen der Staatssicherheit mit einer von Papst Johannes Paul II. geweihten Krone gekrönt. Von ihr ging eine Gebetsbewegung aus, die sich in der Spätphase des Kommunismus der „sittlichen und geistlichen Erneuerung der Nation“ verschrieb und auf ein freies Europa setzte. Von den rund 100 Geistlichen, die den Festgottesdienst mitfeiern, waren nicht wenige damals dabei.

An dem Gottesdienst nimmt auch ein älteres Ehepaar teil. Beide sind mit der Sdřužení, der 1999 gegründeten tschechischen Ast der Ackermann-Gemeinde aus Prag mitgereist. Zunächst etwas mühselig, dann aber immer deutlicher, erinnert sich der Mann an das Deutsch, das er noch in der Schule in Troppau/Opava gelernt hat. Hier hatte er bis 1938 gelebt, als er nach der Besetzung Tschechiens durch die Nationalsozialisten zwangsausgesiedelt wurde, um ethnisch reine Gebiete zu schaffen. Auch Christa Ullmann, die Frau des verstorbenen Bundesvorsitzenden Adolf Ullmann, ist hier geboren. Rasch dreht sich das Gespräch darum, wer wo wohnte und was der Vater gearbeitet hat. Jahrhunderte hatten Deutsche und Tschechen in der mährisch-schlesischen Stadt friedlich Tür an Tür gelebt, bis aggressiver Nationalismus Zwietracht unter die Völker brachte. Es sind Begegnungen dieser Art, die beiden Seiten geholfen haben, die aufgerissenen Wunden zu heilen.

Seither hat sich vieles geändert. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind die Menschen einander näher gekommen: „Das direkte Versöhnen ist heute nicht mehr so das Thema“, erzählt Natascha Hergert. Was sie mehr bekümmert, das sind die fortbestehenden Mauern in den Köpfen. Die Frage Gleichaltriger, warum sie ausgerechnet nach Tschechien gegangen ist, hört die 24-Jährige ungern. Selber ist sie mit ihren Groß- und Urgroßeltern, Vertriebene aus dem Iser-Gebirge und Eger/Cheb, schon als Baby immer wieder in die alte Heimat gefahren. Gemeinsam mit der von tschechischen Schülern und Studenten gegründeten Bürgerinitiative Antikomplex widmet sie sich in der Jungen Aktion den schwierigen Themen der deutsch-tschechischen Geschichte, die in den kommunistischen Schulen gar nicht oder ideologisch verzerrt behandelt wurden und oft noch heute ein Tabu darstellen, erzählt die junge Frau, die nun schon seit eineinhalb Jahren in Prag lebt. Die Ausstellung „Zmizelé sudety. Das verschwundene Sudetenland“ oder die „Spurensuche-Radtour im tschechischen Grenzgebiet“ sind vielbeachtete Meilensteine eines neuen Blicks auf die Geschichte. Auch in einer Zeit, in der der linkspopulistische Staatspräsidenten Miloš Zeman wieder ganz auf antideutsche Ressentiments setzt.

Die in der Ackermann-Gemeinde organisierten Heimatvertriebenen wollten 1946 nicht länger auf gepackten Koffer sitzen. Sie nahmen das Schicksal an und begannen, den Neuanfang in ihrer neuen Heimat aktiv zu gestalten. Sie engagierten sich in den deutschen Diözesen in der Aussiedler- und Vertriebenenseelsorge, versuchten aber auch über den Eisernen Vorhang hinweg neue Verbindungen aufzubauen: 1950 als die Kommunisten in der „Aktion K“ auch das Redemptoristen-Kloster, das die Basilika in Philippsdorf betreute, schlossen und den tschechischen Abt internierten, gründeten die Ackermann-Gemeinde das Sozialwerk mit der Aufgabe, mit Brief- und Paketsendungen Priester, Ordensleute und Laien in der DDR und der Tschechoslowakei zu unterstützen. Viele von ihnen lebten ihren Glauben im Untergrund. Bis zur Wende wurden so 1258 Priester und Ordensleute betreut.

Auch bei Besuchen in der alten Heimat ließen die Ackermänner nichts unversucht. „Wir hatten immer was dabei“, erinnert sich Christa Ullmann. Von Gebetsbüchern über Messgewänder bis zum Kopierer. Waren sie in Gruppen unterwegs, bekamen sie einen Aufpasser an die Seite, den sie entweder mit einem Trick abschüttelten, oder auch schon mal mit zur Wallfahrt in dem ehemals blühenden Wallfahrtsort Maria Stock/Skoky im Egerland nahmen. „Vielleicht haben wir ihn ja bekehrt“, erzählt sie. Den Nervenkitzel, der sie auf jeder Fahrt begleitete, habe sie später jedoch beinahe etwas vermisst. Einer der wichtigsten Kontakte lief über Helena Faberová. Sie hatte mit dem Sozialwerk zusammen. „Es war nicht ungefährlich“, erzählt sie „Es gab ausreichend Beispiele, dass die Staatsmacht hart durchgriff“. Ihr eigener Mann hatte im Untergrund Theologie studiert, nach der Wende wurde er zum ständigen Diakon geweiht. Später wurde sie Gründungsdirektorin der Caritas der Diözese Budweis: „Nicht nur die finanzielle Hilfe, auch wichtige Tipps, wie man eine solche Organisation führt, und natürlich die moralische Unterstützung waren wichtig.“

Vielleicht waren es gerade diese unzähligen kleinen Nadelstiche, die 1989 dem roten Riesen so sehr schmerzten, dass er beinahe über Nacht in der Samtenen Revolution in sich zusammensackte und seither nicht mehr auf die Beine kam. Der Görlitzer Bischof Wolfgang Ipolt erinnerte in seiner Predigt daran, dass Tschechien und die frühere DDR noch immer die am stärksten entchristlichten Gebiete Europas sind. „Die marxistisch-leninistische Weltanschauung hat hier tiefe Spuren hinterlassen, die sich jetzt mit einem hohen Maß an Gleichgültigkeit bei vielen Menschen verbinden“, sagte er. Es sei darum ein „wahrhaft prophetischer Schritt“ gewesen, dass sich vor 70 Jahren deutsche und tschechische Katholiken zusammengetan haben und bis heute dazu beitragen, die "Seele Europas" zu heilen: „Nicht die Zeit allein heilt Wunden, sondern dazu braucht es auch Menschen, die heilend wirken und dabei mithelfen.“

Einer von ihnen ist Marcel Hrubý aus Windisch-Kamnitz/Srbská Kamenice in der Diözese Leitmeritz. In einer Region, die geistlich schon fast verloren war, lässt der Pastoralhelfer mit Hilfe freiwilliger Helfer Kirchen, die kaum noch mehr waren als eine Ruine, wiederauferstehen. Anfangs noch als freiwilliger Helfer hat er inzwischen neun Kirchen vor dem endgültigen Verfall gerettet. Eines seiner letzten Projekte ist die Kirche St. Martin in Markersdorf/ Markvartice. Von ihr standen noch vor kurzem kaum mehr als die Außenwände. Inzwischen strahlt sie als neuer Mittelpunkt des Glaubens in neuem Glanz. Die bunten Mosaikfenster stehen für die Diözesen, die ihn dabei unterstützt haben: „Die jungen Leute in unserer Gegend haben eine viel positivere Beziehung zu geistlichen Werten als die Generation ihrer Eltern und Großeltern“, weckt er Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Glaubens.

Christian Ammon

Wallfahrtsgottesdienst in Philippsdorf/Filipov.