Ein Familiengeheimnis und dessen Aufarbeitung als Film
„ANIMA - Die Kleider meines Vaters" beim Kultur-Zoom der Ackermann-Gemeinde
Ein ganz besonderer und mit mehreren Preisen ausgezeichneter Film, der eine wahre Geschichte über Familiengeheimnisse, Geschlechterfragen und die Wirrungen der Liebe reflektiert, stand im Mittelpunkt des jüngsten Kultur-Zoom der Ackermann-Gemeinde: „ANIMA - Die Kleider meines Vaters" der Film-Regisseurin Uli Decker, die in Murnau geboren und aufgewachsen ist. Als Jugendliche hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester Cordula Kontakt zur Jungen Aktion, ihre Mutter ist langjähriges Mitglied der Ackermann-Gemeinde. 53 PCs waren zu dem Online-Vortrag zugeschaltet.
Moderatorin Sandra Uhlich stellte einleitend die Filmschaffende vor: Uli Decker studierte nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt im Amazonasgebiet Brasiliens Spanische, Portugiesische und Lateinamerikanische Literatur, Theater- und Filmwissenschaft am King’s College London, an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universidad Complutense Madrid. Seit 2009 arbeitet sie als Filmemacherin und produzierte eigene Kurzfilme, TV-Reportagen und Dokumentarfilme. Mit ihren Werken wird sie nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland wahrgenommen und honoriert.
Zum Inhalt des Films: Die kleine Uli will Pirat oder Papst werden, aber auf keinen Fall in die Rollenstereotypen ihres bayerischen Heimatortes passen. Nach dem Tod ihres Vaters bekommt sie von ihrer Mutter dessen „geheime“ Kiste als Erbe ausgehändigt. Der Inhalt verändert schlagartig ihren Blick auf den Vater sowie auf sich selbst, ihre Familie und die Gesellschaft, in der sie aufwuchs. Das Geheimnis ihres Vaters war, sich als Frau zu kleiden und zu schminken und – wenn möglich – dies auch öffentlich zu zeigen.
„Eigentlich sollte es ein Spielfilm werden. Ich wollte mit diesem Familienthema nicht so sichtbar sein“, blickte Decker auf die ursprünglichen Pläne zurück. Doch die meisten der Gesprächspartner, mit denen sie darüber sprach, rieten ihr zu einem Dokumentarfilm. „Eine klassische Doku kann es nicht sein, es sollte auch Humor enthalten sein. Ich musste eine Form finden, mit der ich leben konnte“, änderte sie ihre Pläne schließlich in Richtung Animationsfilm – natürlich auch aus Kostengründen und angesichts der vorhandenen Quellen, vor allem Fotos. Schließlich wurde es eine Mischung aus Animationsszenen und Interviews, verbunden mit Filmsequenzen, die den Alltag in Murnau widerspiegeln. Damit konnte sie auch gute Übergänge schaffen.
Die Zeit vom allerersten Nachdenken über die Entschlussfassung zum Film und diversen Projektentwürfen bis zur Präsentation dauerte weit mehr als 20 Jahre. „Ich war seit dem Tod des Vaters überzeugt, dass es eine erwähnenswerte Geschichte ist“, erläuterte Decker. Die Co-Autorin des Drehbuches Rita Bakacs gab den entscheidenden Tipp, auch die Außensicht miteinzubeziehen – unter der Fragestellung „Ist die Story auch für andere interessant?“ Zwar bildeten die Familienmitglieder weiterhin den Schwerpunkt bei den O-Tönen, doch durch Personen aus dem Umfeld kamen weitere Aspekte dazu. Es ging also darum, „einen Film mit queeren Themen für alle Menschen zu machen, einen menschlichen Film, mit dem keine Schubladen aufgemacht werden, in dem sich viele wiederfinden, viele Menschen andocken können“, beschrieb die Regisseurin.
Schließlich erfuhr sie bei der Umsetzung eine „Atmosphäre von Offenheit“, so dass ein – wie sie es ausdrückt – „feiner, zugetaner und zärtlicher Film“ entstanden ist. Sie verhehlt auch nicht, dass auch sie selbst bereits von Kindheit an die tradierten Geschlechterrollen und -klischees sowie das überkommene Frauenbild (z.B. Rolle der Frauen in Politik und Kirche) kritisch betrachtete. „Das machte mich wütend. Ich hatte den Wunsch, in einer Welt aufzuwachsen, wo die Frauen geschätzt werden“, äußerte sie sich zu diesem Punkt.
Hier kreuzen sich ganz besonders Vater und Tochter. Vater Helmut, dem es im beruflichen und privaten Raum aufgrund der damaligen Strukturen nicht möglich war, seine sensible Seite auszuleben – Uli Decker sprach von einer „seltsamen Heimatlosigkeit“. Dies setzte er dann in seinem eher geheimen Ausbrechen in Frauenkleidern um. Und Tochter Uli, die vom Vater viel Zuneigung erwartete, die aber nicht erfüllt wurde, weil die Tochter ihn zu sehr herausforderte und er selbst mit seiner Veranlagung sehr befasst war. „Aus der Neigung wurde ein mächtiger Baum mit vielen Jahresringen. Das Nichteinweihen ins Geheimnis hat die restlichen Familienmitglieder beschäftigt. Unter den damaligen Bedingungen gab es keine einfache Lösung“, beschrieb Uli Decker die Entwicklung bei ihrem Vater und die familieninterne Reaktion.
Zwei Wochen vor seiner Pensionierung starb Helmut Decker, der als Grundschullehrer tätig war, nach einem Fahrradunfall. Quasi am Sterbebett erfuhr die Familie von seinem Doppelleben und erhielt private Dokumente – neben vielen Fotos auch Tagebücher. Da besonders Uli Decker in diese Dynamik des Familienlebens eingebunden war, hat sie später die Tagebücher geöffnet und stand so gleichermaßen in einem Dialog mit ihrem vor Jahren verunglückten Vater, zu dem sie zu Lebzeiten eine seltsame Distanz hatte. Daraus erwuchs die Idee zu dem Film bzw. der Geschichte, „die mit uns zu tun hat, aber auch anderen etwas gibt“, so Decker. Unter anderem zwei Auszeichnungen mit dem Max Ophüls Preis im Jahr 2022 und der Bayerische Filmpreis ein Jahr später sowie mehrere Nominierungen machen deutlich, dass die Filmregisseurin Uli Decker mit ihren Gedanken und Einschätzungen richtig lag. - Bis zum 30. Mai kann der Film in der ZDF-Mediathek angeschaut werden.
Markus Bauer