Eine „versöhnte Verschiedenheit“ in Europa

Podiumsdiskussion der Ackermann-Gemeinde zum Thema „Abschied von der Nation“ beim Ökumenischen Kirchentag

Auf große Resonanz stieß beim 2. Ökumenischen Kirchentag in München die Podiumsdiskussion der Ackermann-Gemeinde. Zum Thema „Abschied von der Nation? Zum Nationalbewusstsein im zusammenwachsenden Europa“ gaben der Ökumenewissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bremer aus Münster, der Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie Prof. Dr. Tomáš Halík aus Prag, der Direktor der Kommission Kirchen im Dialog der Konferenz europäischer Kirchen Prof. Dr. Viorel Ionita aus Genf und die frühere Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Dr. Antje Vollmer Statements und stellten sich den Fragen des Publikums.

Als wichtige Fragen nannte Moderator Prof. Dr. Albert-Peter Rethmann, der Geistliche Beirat der Ackermann-Gemeinde die „Entwicklung und Bedeutung einer Nation in einem zusammenwachsenden Europa“ und wie sich Christen zu dieser Frage stellen.

In seinem Impulsreferat erläuterte Professor Bremer den Begriff „Nation“ und nannte mit diesem in Verbindung stehende Eigenschaften wie Sprache, Territorium, Abstammung und Religion. Er ging auf die historischen Aspekte ab dem Mittelalter („concilien“, Nationen) ein, auf die Deutungen in der Französischen Revolution und die „moderne Idee von Nation im 19. Jahrhundert“, wo sich die Verbindung von Nation und Staatsangehörigkeit langsam herauskristallisiert hat. Bremer erläuterte aber auch die Situation in Vielvölkerstaaten und das Verständnis von Nation in Deutschland, wo der Herkunftsaspekt lange Zeit prägend war, heute aber nicht mehr uneingeschränkt gilt. Als Charakteristika für die Nation nannte Bremer die „gemeinsame Vergangenheit, die eine Gruppe in der Gegenwart eint“, d.h. ein gemeinsames Normativ, etwa gemeinsame Opfer. „Nationen sind nichts Ewiges. In Europa geht es darum, nicht die Nationen zu ersetzen, aber den Nationalstaat zu reduzieren. Wir haben es immer mit einer geschichtlichen Bedingtheit und Begrenztheit der Nation zu tun. Sie ist ein menschliches Konstrukt“, fasste der Ökumenewissenschaftler zusammen und verwies in diesem Kontext auf die Diskussionen um Integration und Leitkultur.

Auf zwei Bedeutungen von Nation ging Prof. Dr. Tomáš Halíkein: die politische, die für ihn im europäischen Raum zukunftsfähig ist, und die ethnische, die überwunden werden müsse. „Als Christen müssen wir keine Angst vor der Auflösung der Nationalstaaten haben“, blickte Halík nach vorne und verwies auf den Versöhnungsprozess zwischen Tschechen und (Sudeten)Deutschen. „Wir waren uns bewusst, dass wir als Christen ein Volk sind, die schmerzhaften Narben der Vergangenheit konnten geheilt werden“, meinte der Akademiepräsident zur Entwicklung der letzten 20 Jahre, auch wenn er feststellte, dass „noch viele Mauern und Grenzen in den Seelen und Köpfen der Menschen zu beseitigen“ seien. Angesichts des bevorstehenden Pfingstfestes sah Halík den Kirchentag auch als „Sprachlabor“ zur Verständigung über alle Grenzen hinweg.

Dass die Bibel von „ethnos“ und nicht von Nationen spricht, verdeutlichte Erzpriester Prof. Dr. Viorel Ionita. Zudem ist für ihn der Nationenbegriff das „Konstrukt einer bestimmten historischen Entwicklung“. Auch er wies auf den Unterschied von nationaler und ethnischer Identität hin, wobei sich nationale Identität sogar in der orthodoxen Kirche ausgeprägt hat und dort unterschiedlich beladen ist. Mitunter sei, so Ionita, dies auch hilfreich gewesen, „die entsprechende Nation zu retten“. Im heutigen vereinten Europa sind für den Rumänen die Nationen nicht zu überwinden, weshalb er sich für das Modell einer „versöhnten Verschiedenheit“ aussprach - verbunden mit dem Wunsch, dass sich die Nationen in Europa ergänzen.

Ebenfalls eine Aussage aus der Bibel, nämlich den Begriff des Gottesvolkes, brachte Dr. Antje Vollmer ins Spiel. Damit würden nationale Grenzen überwunden. Vollmer skizzierte aus ihrer Sicht die Entwicklung der Nationen seit der Französischen Revolution in den europäischen Ländern und nannte das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Wegfall der Balance in Europa führte. Der Frage, ob Nation als etwas Reines und Unbeflecktes gesehen werden könne, stellte sie die Konflikte in Jugoslawien, im Kaukasus und in Afghanistan entgegen. Für Europa stellte sie eine „eher destruktive“ Bilanz hinsichtlich des Nationenbegriffes fest. In einem neuen Europa soll daher für Vollmer der Nationenbegriff vor allem kulturell geprägt sein.

In der Podiumsdiskussion und in weiteren Stellungnahmen ging es noch um den vor allem populistisch besetzten Nationalismus, die mobilisierende und identitätsstiftende Tendenz von Nation, die diversen Bedeutungen des Begriffes „nation“ in den Ländern Europas, das Engagement von Priestern für die Nation in bestimmten Zeitepochen, die nationale Fixierung der orthodoxen Kirchen gegenüber der Universalität der katholischen Kirche und das Bewusstsein für (nationale) Tradition als positives Element.

Die Publikumsfragen, die Rainer Karlitschek (München) und Herwig Steinitz (Limburg) strukturierten, zielten auf die Themen „Europa-Nation-Volk“, kulturelle Identität, deutsche Opfergeschichten, Dienst von Religion und Glaube für eine ethnische Gemeinschaft und Unfriede in der Religion. Professor Bremer zeigte aus verschiedenen Perspektiven den Unterschied zwischen Volk und Nation auf, Professor Ionita legte Wert auf die Betonung des kulturellen Bereiches in Europa als Instrument zur Identitätsstiftung. „Es gibt keine Kollektivschuld, sondern eine Kollektivverantwortung“, wies Dr. Antje Vollmer auf ein entscheidendes Kriterium hin und nannte es „problematisch, wenn scheinbar spielerisch zu einem harten Nationalismus aufgefordert wird“, wie dies zuletzt die BILD-Zeitung in der Griechenland-Diskussion tat. Professor Ionita nannte als eine wichtige Aufgabe des Glaubens in der Gesellschaft, sich für Versöhnung und Frieden einzusetzen, die Kirchen in Europa motivierte er zur Zusammenarbeit. „Ich kann mir kein Europa oder einen Staat ohne Glaube und Religion vorstellen“, fasste Ionita zusammen.

Markus Bauer

Die Dikussionsrunde auf dem ÖKT.