Eine Wanderung zurück
Anlässlich der Vorführung des Films „Heimat“ – es ging um die letzte Reise von Adolf Hampel in seinen Geburtsort Klein-Herrlitz (in Mährisch-Schlesien) und die damit zusammenhängenden Erinnerungen und Reflexionen – erinnerte mich Peter Hoffmann, noch etwas für die Zeitschrift „Der Ackermann“ über das Treffen in Fulda im Juni 2022 zu schreiben.
Ich bedauere jetzt schon diejenige- oder denjenigen, der (oder die) aus diesen Zeilen ein paar Informationen zusammenstellt. Aber ich selbst bin dazu nicht fähig, weil ich nicht weiß, was ich als kurzgefasste Information vermitteln sollte.
Ich berichtete in Fulda von einer Wanderung im Juni 2013. Irgendwann war mir der Gedanke gekommen, die Aussiedlung 1946 zurückzuwandern. Meine Mutter und ich waren in einem Transport, der April 1946 von Prachatitz im Böhmerwald, der Heimat von so unterschiedlichen Personen wie Johannes Nepomuk Neumann, des ersten Heiligen und Bürgers der Vereinigten Staaten und Mutter Courage, in den Landkreis Marburg gekommen. Die Umstände hatten dazu geführt, dass wir hier geblieben sind. Amöneburg, wo ich jetzt wohne, ist keine zwanzig Kilometer vom kleinen Dörfchen Ronhausen entfernt, wo ich die ersten sechs Jahre in Hessen verlebte. Die Kleinstadt Amöneburg auf der Spitze eines Basaltkegels inmitten einer Ebene ist nach den Orten der „römischen“ Zeit in fränkischer Zeit nach Arnstadt in Thüringen, Würzburg und Hammelburg der viertälteste namentlich erwähnte Ort (721) im heutigen Deutschland.
Ich zog eine Luftlinie von Amöneburg nach Prachatitz und notierte mir größere Orte in der Nähe dieser Linie, wie Bayreuth (Prachatitz war nach dem Münchner Abkommen dem „Gau Bayreuth“ angeschlossen worden), Weiden in der Oberpfalz und Fulda. Ich wollte mir während der Wanderung Karten im Maßstab 1:50 000 besorgen und mir in Anlehnung an die Hauptorte dann eine konkrete Route suchen oder eine Bahnstation für die Rückfahrt, falls die Umstände dazu rieten. Tatsächlich setzte nach dem ersten Tag ein Dauerregen ein, der am 29. Mai zu einem Abbruch führte. Aber damit bin ich der Geschichte schon etwas vorausgeeilt.
Es ist gut, wenn man etwas Muße für die Vorbereitung hat. Und die hatte ich. Vor meiner Hüftoperation im Jahr 2012, die mich mit einem neuen Ersatzteil ausstattete, meinte der Operateur, Volleyballspielen solle ich sein lassen, gegen Tischtennis und Wandern sei nichts einzuwenden. In der Klinik las ich dann die beiden ersten Bände von Patrick Leigh Fermors Bericht über seine Wanderung von den Niederlanden nach Konstantinopel als 18jähriger in der Mitte der 30er Jahre. Durch meine Beschäftigung mit dem griechischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg kannte ich Fermor als wichtige oder wichtigste Person bei der Entführung des deutschen Generals Heinrich Kreipe auf Kreta. Nun lernte ich Fermor in ganz anderen Zusammenhängen kennen. Seine jugendlichen Erlebnisse mit dem Wissen des Alters kombiniert bestärkten mich, die Wanderung nicht länger hinauszuschieben. So wie ich es liebte, verbanden sich im Bericht menschliche Begegnungen, Natur, Geschichte, sprachliche Beobachtungen und unvorhergesehene Ereignisse.
Am 3. Juni 2013 begann der zweite Versuch. Die langen Tage im Juni erwiesen sich als ideal. Ich hatte mir im Vorhinein nicht klargemacht, dass meine Route fernab aller Ballungsräume schöne Landschafträume wie Perlen an einer Schnur aneinanderreihen würde: Vogelsberg und Rhön, Grabfeld (die Zeile „von Bamberg bis zum Grabfeldgau“ kam mir in den Sinn) und Hassberge, Fränkische Schweiz, Fichtelgebirge und den Böhmerwald.
Um unabhängig zu sein, hatte ich ein kleines Zelt bei mir. Das Rucksackgewicht hatte ich auf 13 kg reduziert. Da ich fast jeden zweiten Tag in einem Zimmer übernachtete, konnte ich meine Sachen und auch mich immer wieder ordentlich waschen. Zum Glück habe ich Recht behalten, dass eine Plastikflasche für einen halben Liter Wasser ausreichen würde. Ich könnte ja bei einem Haus einfach läuten und darum bitten, mir die Flasche mit Leitungswasser aufzufüllen. Es zeigte sich, wie hilfsbereit und gastfreundlich die meisten Menschen sind, egal in welchem Land man sich befindet. Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich nicht Saft oder Limonade wolle. Man gab mir Obst, und manchmal folgte auch ein längeres Gespräch. Ein früherer LKW-Fahrer aus der ehemaligen DDR, den seine Arbeit krank gemacht hatte, zeigte mir in Altenburg die Ziegen des evangelischen Pfarrers, um die er sich nun kümmert. „Lenin“ sei von Anfang an zutraulich gewesen, „Stalin“ sei bockig geblieben. Ihm gehe es jetzt gesundheitlich viel besser.
Am 19. Juni, dem Geburtstag meines Bruders Ulf, der mich mit der Jungen Aktion in Verbindung gebracht hatte, war ich um 6.00h aufgewacht. Kurz nach sieben traf ich auf einen Weiler. Ich hatte kein Wasser mehr, aber so früh konnte ich nicht bei einem Haus läuten. Aber dann sah ich einen Mann. Ich fragte ihn. Ja, ich solle doch mit hineinkommen. Als ich ihn wegen der Färbung seiner Sprache fragte, ob er aus Ostpreußen komme, öffnete ich Schleusen. Eine Stunde erzählte er aus seiner Lebensgeschichte. Drei Jahre war er auf eine deutsche Schule gegangen, drei Jahre (nach dem Hitler-Stalin-Pakt) auf eine russische. Ein Bruder und eine Schwester seien verhungert. Der Vater sei erschlagen worden. Wegen der Zweisprachigkeit seien sie (die Volksdeutschen) für die SS geholt worden. Erst nach dem Krieg habe er gehört, das sei freiwillig gewesen. Für sie als Volksdeutsche kam nur „du oder ich“ in Frage. Dabei seien die anderen doch auch unschuldig gewesen. Aber das eigene Leben stehe einem näher. Wenn er bei einer Patrouille russisch angerufen worden sei, habe er „swoji“ gerufen und sofort in Richtung des Anrufs geschossen. Er selber habe außerhalb der Kampfhandlungen keinen Menschen getötet. Er wurde abgeordnet, den Ring um Budapest zu öffnen, was kurzzeitig gelungen sei. Nur eine Minderheit seiner Einheit habe das überlebt. Amerikanische Gefangenschaft. Arbeiten beim Bauern gegen Essen. Übernahme eines verschuldeten Hofes. Hochgearbeitet. Milchfuhren. Ein Sohn mit dem Auto tödlich verunglückt. Lebt jetzt bei einer Tochter. Er ist 86 Jahre alt. Heute wäre Ulf 86 Jahre alt geworden.
Als ich vom Osser auf schrägem Pfad ins Böhmische hinabsteige, wird mir klar, dass wahrscheinlich vor ca. 90 Jahren meine Eltern diesen Weg hinaufgestiegen sind. Meine Eltern hatten die ersten Wandervogelgruppen (zuerst für „Burschen“, dann für Mädchen) im Böhmerwald, und zwar in Prachatitz gegründet.
Nirgendwo wurde während der fünf Wochen nach meinem Ausweis gefragt.
Orchideenwiese im nördlichen Teil des gemeinsamen Nationalparks. Ich stoße auf die verwaiste Siedlungsstelle von Haidl am Ahornberg. Noch blühen Gauklerblumen am Bach. In Gutwasser gibt mir Vladimíra Tesařová, die Schöpferin des Glasaltars, ein Zimmer zum Schlafen und will partout kein Geld annehmen. Ich denke daran, wie ich vor Jahren mit Adolf Ullmann nach Dobrá Voda (Gutwasser) gefahren bin und wir überlegt haben, was wir beitragen könnten, um diesen Ort wieder zum Leben zu erwecken.
Auch am nächsten Tag in Michalov bei Stachy (Stachau), kurz nachdem er zum ersten Mal ein Haselhuhn gesehen hatte, durfte der Heimkehrer in einer Fremdenpension nichts zahlen.
Es folgte die längste Wegstrecke über Winterberg (Vimperk) nach Švihov (Schwihau) bei Lažiště (Laschitz). Einem Hausnamen in Lažiště verdanke ich meinen Nachnamen. Die Letzte, die sich noch mit dem Hofnamen als Fořtová bezeichnete, war Marie Lenzová. Unser gemeinsamer Ahn lebte vor etwa 300 Jahren, und trotzdem sah ihr die Schwester meines Vaters sehr ähnlich. Wir waren vom ersten Moment, als wir vor etwa 45 Jahren zusammentrafen, für sie nicht Fremde, sondern Familie. In ihrem Sommerhäuschen in Švihov traf ich sie am späten Abend, als es schon dunkel geworden war. Es war das vorletzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Marie war eine der liebsten Menschen, die ich kennengelernt habe.
Es folgte der letzte Tag der Wanderung. Der Weg führte an Sablat vorbei. Aus diesem Ort stammte ein Mädchen, das einer meiner Ururgroßväter, Georg Jonathan Kerschbaum, ein Drechslergeselle, in Wien kennengelernt hatte. Diese Begegnung führte dazu, dass sich der in Fürth getaufte Franke mit Abstammung von evangelischen Exulanten aus Österreich in Prachatitz niederließ. Über den Grilling stieg ich nach Prachatitz hinunter. Rechts ragte der über 1000m hohe Libin auf. An seinem Fuß lag das Margarethenbad, das die Familie von Franz Kerschbaum (einem Sohn von Georg Jonathan) zu Blüte geführt hatte. Ich sah das Haus, in dem ich geboren wurde. Wegen eines internationalen Karatekongresses waren alle Zimmer in der Stadt belegt. Deshalb zeltete ich unter einer Linde, wenige Minuten vom Friedhofstor entfernt. So war mein erster Gang am Morgen der Weg zum Grab meiner Großeltern mütterlicherseits, von Anton Stini und seiner Frau Ida (geb. Kerschbaum), einer Tochter des erwähnten Franz Kerschbaum. Weil ihm die Gründung des Bezirkskrankenhauses in Prachatitz zu verdanken ist, ist das Grab ein Ehrengrab der Stadt Prachatitz.
Reinhard Forst