„Erinnerung ist wichtig für Brünn“
„Dies ist wichtig für Brünn, die Geschichte der Stadt und für die Versöhnung“, machte Oberbürgermeister Petr Vokřál deutlich. Und es ist mittlerweile schon eine Tradition: Rund um den Jahrestag des Brünner Todesmarsch erinnert die Stadt Brünn mit einem Versöhnungsmarsch an die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkrieges. 2007 organisierte Jaroslav Ostrčilík erstmals, damals mit wenigen Freunden, einen Gedenkmarsch. In diesem Jahr war zum vierten Mal die Stadt der offizielle Veranstalter dieses Gedenkens, welches erneut im Rahmen des Festivals „Meeting Brno“ stattfand. Die Ackermann-Gemeinde beteiligte sich erneut aktiv daran. Rund 300 Menschen waren es, die sich am ersten Samstag im Juni zu Fuß auf den 32 Kilometer langen Weg von Pohrlitz/Pohořelice zum Mendelsplatz in Brünn machten. Eine große Zahl weiterer Gäste aus Tschechien, Deutschland und Österreich schloss sich der Gruppe zum Abschluss an. Die Strecke orientiert sich an jenem Weg, den die Brünner Deutschen damals nehmen mussten, allerdings symbolisch in die gegengesetzte Richtung. Erstmals sprach zum Abschluss neben dem Brünner Oberbürgermeister mit Bernd Posselt, dem Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, ein Vertreter der Vertriebenen. Zudem präsentierten sich im Hof des Mendelklosters Altbrünn die Ackermann-Gemeinde, die Seliger-Gemeinde, die Sudetendeutsche Landsmannschaft und das Österreich Institut in Brünn mit Ständen. Als einen „kleinen Sudetendeutschen Tag“ bezeichnete der Organisator Jaroslav Ostrčílík daher mit einem Augenzwinkern zuvor gegenüber der Presse den Abschluss des diesjährigen Versöhunungsmarsches.
Der Brünner Oberbürgermeister machte in seiner Ansprache einen historischen Bogen. „Vor einhundert Jahren haben wir die Unabhängigkeit gewonnen“, führte er mit Blick auf die Gründung der Tschechoslowakei 1918 aus. „Aber im Laufe der Zeit haben wir viel verloren“, gab sich Vokřál nachdenklich und nannte den Verlust der Juden durch den Holocaust, der Deutschen durch die Vertreibung und der Intellektuellen durch die Kommunisten. Er rief dazu auf, für Versöhnung zu wirken und „die Versöhnung stets zu aktualisieren“. Angesichts von Kräften, die „Geschäfte mit der Angst machen“ und sich gegen Europa richteten, formulierte Vokřál den Wunsch, zusammenzustehen und die dadurch entstehdenden besseren Möglichkeiten zu nutzen.
Die „tschechischen, sudetendeutschen und europäischen Landsleute“ begrüßte Bernd Posselt in seiner Rede in Brünn. Eingangs dankte er dem Brünner Oberbürgermeister. „Sie zeigen Mut. Den gibt es in der Politik leider viel zu selten,“ wandte sich Posselt an Vokřál. Nur mit Mut könne Frieden geschaffen werde, so der SL-Sprecher. Eindringlich warnte Posselt vor Nationalismus, den er als „menschlich Dummheit“ bezeihnete. „Diese menschliche Dummheit hat Tschechen und Deutsche entzweit“. Sie habe zum Krieg, zum Holocaust und zur Vertreibung geführt. „Heute versuchen wir das gemeinsame wieder aufleben zu lassen.“ Den Versöhungsmarsch sieht Posselt als „Signal für den Freiden und für eine Welt, in der die Menschenrechte für alle gelten.“
Der Organisator des Versöhnungsmarsches Jaroslav Ostrčílík verwies darauf, wie viel um diesen in den letzten Jahren entstanden sei. Er nannte „Freundschaften quer durch Mitteleuropa“ und ging auf das 2015 von der Stadt Brünn ausgerufene „Jahr der Versöhnung“ ein. Die damals verabschiedete „Deklaration der Versöhnunung und der gemeinsamen Zukunft“ sieht er als eine positive Zäsur im Umgang der Stadt mit ihrer Geschichte.“Wir haben etwas gemeinsames geschaffen: die Brünner, die die Brünn verlassen mussten und ihre Nachkommen.“ Als beispiellos für Tschechien hob Ostrčilík auch die enge Zusammenarbeit der Stadt mit der Zivilgesellschaft hervor.
Den Auftakt des Versöhnungsmarsches bildete am Morgen ein Gebet auf dem Gräberfeld der Gedenkstätte bei Pohrlitz. Dort endete 1945 zwischenzeitlich der Todesmarsch. Hunger und Seuchen im Lager führten zu einer Vielzahl von Todesfällen. Rund 900 Opfer wurden dort in einem Massengrab bestattet. Der Brünner Pfarrer Jan Hanák und Abt em. Dr. Emmeram Kränkl , vom Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde, formulierten in tschechischer und deutscher Sprache Gedanken zur Erinnerung und zur Versöhnung. Kränkl verwies darauf, dass alle Völker dunkle Seiten in ihrer Geschichte hätten. „Der einzige Weg zur Versöhnung führt über Erinnerung“, betonte der Benediktiner. Hanák hob hervor, dass Vergebung ein Geschenk und kein Geschäft sei. Das Vaterunser in beiden Sprachen, bei dem sich alle die Hände reichten, sowie der Segen beendeten den geistlichen Auftakt.
Die erste, 17 Kilometer lange Etappe führte die Gruppe bis nach Groß Raigern/Rajhrad, wo eine Erfrischung wartete. Der Großteil der Teilnehmer des Versöhnungsmarsches waren auch in diesem Jahr wieder jüngere Tschechen. Aber auch aus Deutschland und Österreich waren Menschen angereist, um an diesem Gedenken teilzunehmen, darunter ein Bus der Ackermann-Gemeinde aus den Diözesen Stuttgart, Freiburg und Mainz. Im Gymnasium an der Wiener Straße wurden die Pilger von Ehrengästen und Brünner Bürgern mit Applaus empfangen, um gemeinsam das letzte Stück bis zum Mendelplatz zu gehen. Am Mendelplatz mussten sich 1945 die deutschsprachigen Brünner versammeln. Von dort begann der Todesmarsch. Rund hundert Meter vor dem Ziel empfing eine Gruppe von rund 40 Gegendemonstranten die Teilnehmer des Gedenkmarsches. Nur ein kurzer Moment, in dem Ablehnung dieses gemeinsamen Versöhnungszeichens zu spüren war. Dies tat dem würdevollen Gedenken keinen Abbruch. Dieses ging mit dem Entzünden von Kerzen am Denkmal an den Brünner Todesmarsch zu Ende. Es schloss sich, musikalisch umrahmt durch die Brünner „Urband“, ein tschechisch-deutsches Begegnungsfest mit zahlreichen Gesprächen an den Ständen an.
Der Versöhnungsmarsch ist eingebunden in des Festivals „Meeting Brno“, welches am 25. Mai startete und noch bis zum 9. Juni geht. Der dritte Jahrgang steht unter dem Titel „Zeit Zur Re/vision“ und will eine Bilanz der hundertjährigen Geschichte des modernen tschecho-slowakischen Staates ziehen. „Wir wollen die Meilensteine analysieren, die seine Entwicklung deutlich beeinflusst haben und richten unser Augenmerk auf die Jahre 1918, 1938, 1948, 1968 und 1989, die mit dem Kampf um die Durchsetzung der demokratischen Werte verbunden sind“, erklärt die Festivalleitung um ihre Direktorin, die Schriftstellerin Dr. Kateřina Tučková. Der Aufstieg des Totalitarismus habe zwangsläufig zu einer Abwanderung der Eliten, die in der Unfreiheit nicht mehr arbeiten konnten, geführt, wenn sie überhaupt überlebt hätten. Es wurde an einige herausragende mit Brünn oder Mähren verbundene Persönlichkeiten erinnert, die wegen der Veränderung der politischen Lage in der nationalsozialistischen oder kommunistischen Diktatur ihr neues Zuhause im Ausland suchen mussten. So wurde auch an den Besuch der Nachkommen der jüdischer Brünner Industriellenfamilien, Löw-Beer, Tugendhat und Stiassni vor einem Jahr. Der hierüber entstandene Dokumentarfilm „Rozvzpomínání/Erinnerungsvermögen“ von Roman Zmrzlý hatte am Vorabend der Versöhnungswallfahrt Premiere. Die Fragen, die das Festival formuliert, klingen zugleich wie eine Mahnung, wenn es beispielsweise heißt: „Was ist uns alles abhandengekommen, weil wir unsere Freiheit nicht hüten konnten und solche Leute verloren haben?“
Das Festival „Meeting Brno“ bietet seit 2016 jeweils Ende Mai eine Plattform für die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Ansichten, Kulturen und Religionen. Die Ackermann-Gemeinde gehört zu den offiziellen Partnern des Festivals. Das Programm umfasst Autorenlesungen, Theater- und Musikveranstaltungen, Ausstellungen, Performances im öffentlichen Raum sowie Diskussionsforen mit inspirativen Persönlichkeiten. Weitere Programmelemente waren noch ein deutsch-tschechischer Gottesdienst und ein Gedenkakt im Kaunitz-Kolleg, bei denen die Ackermann-Gemeinde ebenso eingebunden waren.
ag