Hat die Ackermann Gemeinde eine Zukunft?

Vor zehn Jahren gab sich die Ackermann-Gemeinde mit der AGend ´02 ein neues Arbeitsprogramm. Ein Jahrzehnt später geht der tschechische Historiker Dr. Matěj Spurný, Gründungsmitglied von Antikomplex und Vorsitzender der Bernard-Bolzano-Gesellschaft, der Frage nach, ob die dort genannten Zielsetzungen noch aktuell und zukunftsfähig sind.

"Die Idee, dass man auch bitteren und schmerzhaften Erfahrungen Sinn geben kann, indem man selber oder indem andere auf Grund dieser Erfahrungen zu besseren Menschen werden, gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen in der Geschichte der Menschheit. Seitdem ich in der Ackermann Gemeinde Freunde und Verbündete in unserer Arbeit habe, verstehe ich diese Gemeinschaft als einen der konsequentesten Träger gerade dieses ursprünglich revolutionären und immer noch bei weitem nicht selbstverständlichen Gedanken.

Die Existenz der Ackermann Gemeinde wäre nicht um sonst, auch wenn diese Vereinigung derer, die aus den Böhmischen Ländern nach 1945 vertrieben wurden, „nur“ zu einer inneren Versöhnung dieser Menschen mit ihrem eigenen Schicksal und mit ihren Feinden auf der anderen Seite der deutsch-tschechischen Grenze beitragen würde. Umso bewundernswerter ist es, dass sich die Ackermann Gemeinde auch das Ziel gesetzt hat und es lange erfolgreich in die Praxis umsetzte, im öffentlichen Raum zu wirken und eine Art von Beziehungen zwischen Tschechen und (Sudeten)Deutschen, die über eine diplomatische Akzeptanz oder Toleranz reichen, zu pflegen. Ich verstand die Agenda 02 vor zehn Jahren und verstehe sie immer noch als einen Versuch, diesen Dienst auch dann zu pflegen, wenn die meisten der in den 1940er Jahren Vertriebenen diese Welt verlassen. 

Die Ackermann Gemeinde ist ohne Zweifel in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem aktiven Akteur der Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen geworden und kann diese Rolle auch weiterhin spielen. Eine solche Arbeit wird jedoch immer weniger bedeutend, da sich jüngere Tschechen und Nachkommen der Sudetendeutschen nicht mehr versöhnen müssen. Das Interesse der einen für die anderen wird auf anderen Wegen geweckt, wobei die AG eine interessante, aber eher partielle Rolle spielen kann.

Eine „ehrliche Auseinandersetzung mit dem Unrecht, das durch die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist“ wird in Tschechien auch ohne die Ackermann Gemeinde fortgesetzt. Dass die Ackermann Gemeinde auch hier (im Gegensatz zu den achtziger oder neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts) nur eine bescheidene Rolle spielen kann, ist nicht ihr Fehler sondern eine Folge einer demokratischen Entwicklung der tschechischen Gesellschaft, zu der auch eine innere kritische Diskussion über die Vergangenheit gehört.

Die Ackermann Gemeinde könnte eine wichtige Rolle im intellektuellen Transfer und Transfer der politischen Kultur zwischen Deutschland und Tschechien (oder ganz Zentraleuropa) spielen. Dies ist jedoch eine Rolle, die eine weit reichende Umstrukturierung und Stärkung der Organisation erfordern würde um auf einem solchen Feld anderen Akteuren (Robert Bosch Stiftung, die Stiftungen der deutschen Parteien usw.) zu konkurrieren oder für sie ein Partner auf gleicher Augenhöhe zu sein.

Für noch deutlich komplizierter als die Rolle der Ackermann Gemeinde in den gegenwärtigen (Sudeten)deutsch-tschechischen Beziehungen halte ich die Frage, ob die Gemeinschaft der ursprünglich Vertriebenen zur Integration und zur inneren Katharsis der Menschen mit einer ähnlichen Erfahrung in unserer Gegenwart, in Deutschland oder sogar weltweit, beitragen kann.

Der Ackermann Gemeinde ist der Schritt von Verbitterung der Opfer zur Versöhnung gelungen. Nun steht sie vor der Frage, ob sie zu einem europäisch oder sogar global respektierten Repräsentanten des Menschenrechtsdiskurses werden kann. Die authentische Auseinandersetzung mit diesem Thema aus der Position der Opfer in der Geschichte schafft dazu gute Voraussetzungen. Die Hindernisse sind jedoch auch nicht gerade klein.

Die Agenda 02 bleibt in dieser Hinsicht, bei aller Sympathie, auf der Oberfläche. Auf der allgemeinen Ebene kann man gegen die „Achtung der menschlichen Person und die Grundsätze der Solidarität und Subsidiarität“ kaum etwas einwenden. Wie genau man jedoch „die Not der Menschen“ lindern kann, „die von Flucht, Vertreibung oder Deportation betroffen oder aus anderen Gründen zur Migration gezwungen sind“, ist eine Frage, die man unbedingt beantworten müsste, falls man auf diesem Gebiet etwas grundlegendes erreichen will. Die Ackermann Gemeinde ist keine humanitäre Organisation, daher kommt eine (politisch und intellektuell unproblematische) schnelle Hilfe in der akuten Not, weder weltweit oder in Deutschland, kaum in Frage. Die eigentliche Stärke könnte also in einer langfristigen Hilfe und in, auch im Text der Agenda 02 erwähnten, Integrationsarbeit liegen. Gerade die steht aber in der heutigen Welt vor vielen intellektuellen und praktischen Herausforderungen.

Die Sudetendeutschen, und so auch die Gründungsmitglieder der Ackermann Gemeinde, integrierten sich relativ erfolgreich in die (West)deutsche Gesellschaft. Diese Integrationserfahrung kann jedoch kaum als Muster für die Beziehungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und verschiedenen eingewanderten (oder auch autochthonen) ethnischen Gruppen dienen. Die Sudetendeutschen sprachen dieselbe Sprache wie die Leute in Bayern oder Hessen, gehörten zur gleichen Kirche oder achteten zumindest denselben Kanon christlicher Werte. Die Fragen des gegenwärtigen Europa sind komplizierter. Universelle Menschenrechte, das Recht auf eine kulturelle Autonomie und Wahrung der eigenen Identität und die Bewahrung  eines christlichen Europa gehen nicht immer Hand in Hand. Im Gegensatz, oft stehen diese Werte gegeneinander.

Wie steht die katholische und (zumindest ursprünglich) konservative Ackermann Gemeinde zu der Idee der christlichen Leitkultur? Ist ein multiethnisches und multireligiöses Europa ohne eine Dominanz der christlich geprägten weißen Europäer eine legitime Folge der modernen Entwicklung oder ein Versagen der alten europäischen Kulturnationen? Inwiefern sollten sich anders glaubende und außereuropäische Immigranten zuerst anpassen um integrationsfähig zu sein? Stehen die universellen Rechte der (z.B. moslemischen) Frauen vor dem Schutz einer kulturellen Autonomie und Bewahrung der Identität von Gemeinschaften, zu denen diese Frauen gehören?

Es sind viele Fragen, die vielleicht abstrakt scheinen mögen, ohne deren Beantwortung jedoch der gute Wille Fremden in der Not zu helfen kaum mehr als eine Art vom sympathischen Gutmenschentum sein kann.

Die sehr wertvolle Erfahrung der Ackermann Gemeinde zeigt unter anderem, dass man Menschen nur dann helfen kann (und Hass oder Misstrauen unter ihnen abbauen kann), wenn man sie sehr gut versteht. Auf dem Gebiet der deutsch-tschechischen Beziehungen klappt dies sehr gut, bis hin zu solchen praktischen Konsequenzen, dass auch viele junge Leute in der AG tschechisch sprechen und die tschechische Gesellschaft dank langen Aufenthalten in Tschechien sehr gut „von innen“ kennen. Wenn man aber die Hilfe heutigen Flüchtlingen und Vertrieben aus dem Balkan, aus Nordafrika, nahem oder mittleren Osten ehrlich meint, ist dies kaum vorstellbar ohne die Sinnwelten dieser Menschen sehr vertraulich zu kennen und zu verstehen. Wird dazu eine zukünftige Agenda 13 oder 15 etwas sagen?

Ich schätze die Ackermann Gemeinde als eine Gemeinschaft von Menschen mit denen ich viele Interessen und Werte teile und als eine Organisation, die zur Auseinandersetzung mit dem Ende der Geschichte der Deutschen in Böhmischen Ländern sowohl unter den Vertriebenen als auch in Tschechien beigetragen hat. Falls sie jedoch bei dieser bedeutenden historischen Rolle nicht bleiben will, braucht sie mehr als eine Agenda 02. Sie muss ihre Weltanschauung neu definieren und konkrete Ziele setzen. Ich werde ihr dabei die Daumen drücken und falls es in meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten sein wird, auch behilflich sein."

 

Öffnet internen Link im aktuellen FensterText  der AGenda ´02 vom 24.11.2002

Erreicht die AG noch mit ihren Zielen die Menschen?