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Irritationen unverstandener mitteleuropäischer Nachbarn?

Dem inzwischen 21. deutsch-tschechischen Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ wohnten weit über 200 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei am Palmsonntagwochenende im Theater Reduta in Brünn/Brno bei. Es stand heuer unter dem Thema „Unverstandene Nachbarn?“ Vor allem die in verschiedenen Bereichen offenkundigen Irritationen zur Geschichte, in der Politik und in den Diskursen in Mitteleuropa wurden dabei beleuchtet. Hauptveranstalter waren die Ackermann-Gemeinde und die Bernard Bolzano Gesellschaft aus Prag.

Mit eben diesem Mitteleuropa setzte sich im Eröffnungsvortrag der in Wien lebende und aus Ungarn stammende Publizist und Schriftsteller Prof. Paul Lendvai auseinander. Vor dem Hintergrund des vielgesichtigen Nationalismus stellte er fest, dass Mitteleuropa „kein Staat, sondern eine Kultur, ein Schicksal“ sei, in dem Russland keine Rolle spiele. Kritik übte er aber an den vier Vyšehrad-Staaten, an der weit verbreiteten Korruption sowie an der Trennung von Tschechien und der Slowakei, die manche Probleme mit sich gebracht habe. Als wichtiges Bindeglied sah Lendvai die Literatur und Wissenschaft und nannte in diesem Zusammenhang Václav Havel als „eine der großen Figuren der Literatur und der Politik“. Als mitteleuropäisches Problem nannte der Publizist die Minderheiten, die sowohl „Brücke als auch Mittel zur Explosion“ sein können. Bezüglich seines Geburtslandes Ungarn sprach Lendvai von einer „totalitären Versuchung“ und kam zu folgender These: „Es gibt keine Alternative zur europäischen Zusammenarbeit. Die Europäische Union hat, auch bei negativen Entwicklungen, in einzelnen Ländern eine wichtige Bedeutung, auch wenn sie die Völker und Nationen nicht ersetzen kann.“ Das Thema „Die Erwartungen der ostmitteleuropäischen Staaten an Deutschland und die deutsche Europapolitik“ diskutierten der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde und Europaabgeordnete Martin Kastler und der Brünner Soziologe und Journalist Jakub Patočka. „Die Stellung Deutschlands in Europa ist eine ganz andere als vor 2004. Deutschland hat sich sehr stark eingebracht“, stellte Kastler fest. Er verwies auf die Krise in den südeuropäischen Ländern und auf die Hilfen Deutschlands. „Die Stellung Deutschlands ist in die Mitte Europas gewandert, als sich 2004 die Koordinaten in Europa verschoben haben“, verdeutlichte der Europaabgeordnete. Er erinnerte auch an die jahrhundertelangen Verbindungen und die gewachsenen Nachbarschaften in Mitteleuropa. „Deutschland möchte eine gute Partnerschaft mit seinen mittel- und osteuropäischen Nachbarn“, wünschte Kastler und sah „Europa als Führungsmacht im globalen Bereich, wenn die Staaten gemeinsam auftreten“. Derzeit leiste Deutschland jedoch bei Hilfeleistungen und Rettungsfonds den größten Beitrag. Kastler votierte für mehr Kontrolle der Verwendung dieser Gelder. Jakub Patočka machte in seinem Statement deutlich, dass der Ruf nach einer aktiven Rolle Deutschlands nicht gleichzusetzen sei mit dem Ruf, dass Deutschland zu einer Kraft wird, die die Paramater der europäischen Politik diktiert. Der Brünner Soziologe sieht Europa vielmehr als Staatengemeinschaft, die sich „in eine demokratische Großmacht“ verändern müsse. Dabei müsse auch nach dem Charakter des ökonomischen Systems gefragt werden. Patočka sprach auch von einer „Angst vor deutschen Körperschaften, weniger vor der deutschen Politik“ und wünscht sich die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft in den neuen wie auch alten EU-Mitgliedstaaten. Deutlicher Gewinner der Globalisierung ist für ihn China, vor diesem Hintergrund müsse die internationale Politik deutlich umgestaltet werden. „Wir müssen die europäische Politik vertiefen“, lautete Patočkas Forderung – auch an seine eigene Regierung, wobei er aber mit aktuellen Gegebenheiten wie etwa den verschiedenen Geschwindigkeiten nicht einverstanden ist.

Wie Schriftsteller die mitteleuropäischen Irritationen verarbeiten, stand beim Podium am Samstagnachmittag im Mittelpunkt (siehe separaten Bericht). Erinnert wurde zudem an den kürzlich verstorbenen Ján Mlynárik, in einer Lesung wurde zudem Jiří Grušas gedacht, zudem trug Herma Köpernik-Kennel Passagen aus ihrem Buch vor und erläuterte die Entstehung ihres Werkes.

Mit der Frage, welche Hauptelemente die mitteleuropäische Politik im Spannungsfeld der neuen großen Mächte haben sollte, setzte sich das abschließende Podium am Sonntagvormittag auseinander. Das Einleitungsreferat oblag Prof. Dr. Petr Drulák vom Institut für Internationale Beziehungen in Prag. Als wichtige Wesenselemente Europas nannte er die aus der französischen Revolution stammenden Aspekte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wobei er die horizontale und vertikale Teilung der Macht als Garantie für die Freiheit ansah. Dem Prinzip der Subsidiarität maß Drulák dabei ebenso eine hohe Bedeutung zu wie der Solidarität, die mitteleuropäische Politik orientiere sich vielfach an der westeuropäischen in Form eines Nachholens oder Nachahmens. „Die größte Bedrohung kommt immer von innen, durch den nicht bewältigten Kapitalismus. Alle Beziehungen werden in Marktbeziehungen übertragen“, beschrieb er die derzeitige Lage, in der seiner Meinung nach von den Großmächten wie China, Russland und dem Islam keine konkrete Gefahr ausgehe – eher von der „Finanzoligarchie“, die alle Macht zu konzentrieren und in viele Lebensbereiche einzudringen versucht. „Diese Konkurrenz zersetzt die Solidarität“, stellte der Referent fest. Mitteleuropa müsse daher nach neuen Regulierungsrahmen suchen, eine Orientierung nach Westen (Deutschland/Frankreich) oder nach Osten (Russland).

Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit im gesamten Europa betonte der Berliner Historiker Prof. Dr. Jürgen Kocka. Im Bereich der Politik ging er auf vier Bereiche ein: den Umgang mit Gewalt (Reduzierung des Militärs auch als Zeichen des Machtverlustes der früheren europäischen Mächte), den Kapitalismus (brachte Innovation, Wachstum und Wohlstand, ist heute aber nicht notwendigerweise mit Demokratie und Menschenrechten verbunden), das Verhältnis von Einheit und Vielfalt (Föderalismus, Integration in Europa in Form der EU) und das Europa im internationalen Spannungsfeld (europäisches Selbstbewusstsein nur im Vergleich bzw. Absetzung von anderen). „Die europäische Einigung hat ohne die ökonomische Dimension keine Chance“, lautete Kockas Credo und präsentierte zwei Zukunftsvisionen: entweder eine weitere Integration oder einen Prozess der Regression. „Wir haben über die Jahrzehnte weit über unsere Verhältnisse gelebt“, nannte er als einen weiteren Grund für die derzeitige Krise.

Einen Zusammenhang zwischen dem EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten im Jahr 2004, der Finanzkrise 2008 und der heutigen Situation in den jeweiligen Ländern (Deutschland, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) stellte die Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Brigita Schmögnerová aus Pressburg in ihren Ausführungen her. „Es ergaben sich Differenzierungen der Machtpositionen“, die sich auch auf die Haltung zur EU auswirkten, verdeutlichte Schmögnerová. Und sie verwies auch auf den Rückgang der Demokratie in allen EU-Staaten sowie auf den Vertrauensverlust in Politiker.

Die verschiedenen, in Europa praktizierten Modelle der Verbindung von Marktwirtschaft und Sozialstaat zeigte der frühere sächsische Ministerpräsident und jetzt in Dresden lehrende Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Georg Milbradt in seinem Statement auf. „Mitteleuropa gehört zu den dynamischten Regionen und hat die besten Zukunftschancen, wenn die dortigen Länder wirtschaftlich vernünftig geführt werden“, blickte er nach vorne. Als einen wichtigen Aspekt nannte er aber auch die demografische Entwicklung. Für ihn ist aber die ökonomische Basis eine der Grundvoraussetzungen für Politik, d.h. in Europa eine Wettbewerbsfähigkeit mit den globalen Mitbewerbern. Vorrangig in der Außen- und Sicherheitspolitik müssten laut Milbradt die europäischen Staaten auf ihre Souveränität verzichten. „Sind wir im Kernbereich bereit, Souveränität aufzugeben zugunsten einer zentralen europäischen Regierung mit einer entsprechenden Autorität? Wollen wir die Vereinigten Staaten von Europa?“, fragte er ins Publikum und gab relativierend zu bedenken, dass dies nicht mit der Vielfalt Europas vereinbar wäre. „Wenn wir die Vielfalt wollen, dann nehmen unterschiedliche Länder ihr Schicksal selbst in die Hand“, beschrieb er die andere Seite der Medaille.

Am Rande des Symposiums feierten die Teilnehmer in der Kirche St. Jakob den Sonntagsvorabendgottesdienst, den der Chor Kantilená (Kinder- und Jugendchor der Brünner Philharmonie) unter der Leitung von Mag. Jakub Klecker umrahmte.

Markus Bauer

Referent Prof. Lendvai mit Pithart und Kastler (v.l.)