Ist Vergebung möglich?

Prominent war die Ackermann-Gemeinde im Programm des diesjährigen Katholikentags vertreten. Ihr Hauptpodium auf dem fünftägigen Treffen in Mannheim stand unter dem Thema „Vergebung (un)möglich? Unrechtserfahrungen und neue Aufbrüche“.

Mit der ambivalenten Fragestellung, ob „Vergebung (un)möglich“ sei, hatte die Ackermann-Gemeinde ins Schwarze getroffen; sie bescherte ihr nämlich bei einer Diskussionsrunde im CC Rosengarten mir rund 500 Zuhörern einen überfüllten Saal, was angesichts von 99 zeitgleich beginnenden weiteren Veranstaltungen schon erstaunlich war. Das gilt auch für die lebhafte Anteilnahme des Publikums, das über seine „Anwälte“ – Dramaturg Rainer Karlitschek aus München und Herwig Steinitz, stellvertretender Bundesvorsitzender, – zahlreiche, teilweise brisante Fragen stellte. Dazu dürfte neben der aktuellen Thematik auch die Besetzung des Podiums beigetragen haben, das mit Arzt und Psychotherapeuten Dr. Martin Grabe, Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma, Dr. Walter Rzepka und Prof. Dr. Gesine Schwan unter der zielgerichteten Moderation von Prof. Dr. Albert-Peter Rethmann immer schnell zur Sache kam.

Für Professor Jan Philipp Reemtsma, 1996 als 43-jähriger selbst bekanntes Opfer einer Entführung mit Folterhaft, die er ein Jahr später in seinem Buch „Im Keller“ reflektierte, kommt die Opferperspektive in der Regel zu kurz. Er tritt für das Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters ein. Die Frage der Vergebung, wobei er den Begriff Verzeihung ohne religiöse Aufladung vorzieht, sei dagegen eine nachrangige Privatangelegenheit zwischen zwei Menschen. Sie habe sich für ihn nie gestellt, zumal der Täter in seinem Falle keinerlei Unrechtsbewußtsein besitze, so Reemtsma. Auch ein Gerichtsverfahren diene nicht der zweiseitigen Versöhnung, könne aber für das Opfer überaus hilfreich sein, wenn die erlebte Gewalt deutlich als Unrecht gekennzeichnet werde. Der als Opfer stigmatisierte Mensch müsse zum Zwecke einer erträglichen künftigen Lebensführung aus seiner Opferrolle herausfinden; dazu gehöre, dass er mit Bezug auf den Täter eine „Vergleichgültigung“ erreiche. Eine Kommunikation mit dem Täter hält Reemtsma grundsätzlich für unnötig.

Der ehemalige bayerische Generallandesanwalt Dr. Walter Rzepka schilderte zunächst eindringlich, wie er als Jugendlicher die gewaltsame Vertreibung aus seiner böhmischen Heimat im Jahre 1945 erlebte. Er habe gleichwohl nicht zugelassen, dass dieses Erlebnis von Willkür und Gewalt seinen weiteren Lebensweg negativ bestimmt habe. Bei einer aus Sicht der Betroffenen anonymen Täterstruktur, die als Machtfaktor zugeschlagen habe, was bei der Vertreibung von Millionen Deutscher regelmäßig der Fall war, sei aber die Täterseite mit einzubeziehen, plädierte Rzepka. Dies sei erforderlich, um eine dauerhafte Aussöhnung zwischen den Völkern zu erreichen.

Walter Rzepka, von 1998 bis 2004 Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde und heute ihr Ehrenvorsitzender, hat 2005 die Schrift „Zukunft trotz Vergangenheit“ herausgegeben, mit welcher das Eintreten dieses katholischen Verbandes um die deutsch-tschechische Versöhnung dokumentiert wird. Nach Rzepka sei es hilfreich, die zunächst anonyme Tätergruppe aufzulösen und bei der am wenigsten oder nicht belasteten Bevölkerungsgruppe mit der Friedensarbeit anzusetzen, „weil wir alle im Laufe unseres Lebens irgendwie schuldig werden und auf Vergebung angewiesen sind.“ Es sei immer falsch, pauschal negativ von „den Tschechen“, „den Polen“ oder „den Deutschen“ zu sprechen, warnte Rzepka.

Für Dr. Martin Grabe, Chefarzt einer klinischen Abteilung für Psychotherapie und ehrenamtlich in der evangelischen Kirche tätig, ist das Podiumsthema ein zentrales Forschungsanliegen. Er widmete diesem unter anderem auch sein Buch „Lebenskunst Vergebung“. Die Tiefe der Verletzung, des erlittenen Psychotraumas, erschwere an sich schon die Möglichkeit einer Vergebung, zumal ein Druck, vergeben zu müssen, eine zusätzliche Last aufbürde, die unter Umständen Haßgefühle als feste seelische Verbindung mit dem Täter erzeuge. Um sein Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, müsse es nicht zwingend zu einer Versöhnung kommen.

Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance und in der katholischen Kirche engagiert, sieht in der Vergebung, wie Reemtsma eine religiöse Dimension. Für das Opfer sei es nach Schwan entscheidend, ob es aus der Abhängigkeit vom Täter herausfinde. Bestehe keine individuelle Beziehung, sondern sei eine andere nationale Gruppe für die Tat verantwortlich, so sollte man besser von der Möglichkeit der Verständigung zwischen zwei Gesellschaften als von Völkerverständigung sprechen. Wer sich als Volk in seiner Täterrolle nicht genügend mit der eigenen Schuld befasst habe, neige vermehrt zu einem negativen Urteil über die andere Seite. Darauf sei auch zurückzuführen, dass die Polen, wie sie erlebt habe, eher positiv über die Deutschen denken als umgekehrt.

Wie das Opfer seine Beziehung zum Täter gestalten sollte, war wiederholt Gegenstand unterschiedlicher Meinungsbeiträge. Während Professor Reemtsma dem Opfer empfahl, den Täter auf Distanz zu halten, „er möge bleiben, wo der Pfeffer wächst“, hielt auch Dr. Walter Rzepka eine Abhängigkeit vom Täter bei der Bewältigung des eigenen Schicksals grundsätzlich für falsch. Er möchte beispielsweise nicht als Geißel anonymer Täter durchs Leben gehen. Man könne aber versuchen, das Erlebte vernarben zu lassen und etwas tun, was zur Aussöhnung beitragen könne. Dies könnte beispielsweise die Mitwirkung am Aufbau der verfallenen Heimatkirche sein, um für die Menschen, die im Gefolge der eigenen Vertreibung oder der der Eltern jetzt dort leben, ein Gotteshaus zu schaffen. Vergebung und Versöhnung bedürfe keiner ritualisierten Form. Oft reichten schon Gesten, wie seinerzeit der Briefwechsel zwischen den deutschen und polnischen Bischöfen. Hinzuweisen sei auch auf die nicht unbeträchtliche Zahl von Denkmälern und Kreuzen, die Deutsche und Tschechen, oft gemeinsam, zur Erinnerung an Verbrechen aufgestellt haben, die Mitglieder einer Volksgruppe an der anderen verübten. Prof. Dr. Gesine Schwan erläuterte am Beispiel der südafrikanischen Versöhnungskommission, die anstelle gerichtlicher Verfahren tätig wurde, dass das erfahrene Leid gelindert werden könne, wenn man es als Unrecht anerkenne und entsprechend dokumentiere. Für den Psychotherapeuten Dr. Martin Grabe gibt es eine Dimension schwerster seelischer Verletzungen, wo ein Versöhnungsprozess aussichtslos erscheine. In religiöser Hinsicht müsse dazu geraten werden, die Sache Gott und seiner Gerechtigkeit anheimzustellen.

Versucht man, ein Fazit der Diskussion zu ziehen, so stimmten die Gesprächspartner am Ende darin überein, dass bei individuell zugefügtem Leid andere Wege zur Überwindung in Betracht kämen als bei kollektiv verübtem Unrecht. Letzteres bedürfe schon im Interesse der Friedenssicherung der Einleitung eines Aussöhnungsprozesses. Nachdem man auf Fragen aus dem Publikum sich noch einmal eingehend der personalen Opfer-Täter-Beziehung zugewandt hatte, konnte Moderator Professor Dr. Albert-Peter Rethmann feststellen, dass das Podium dem Täter keinen Anspruch auf Vergebung oder Verzeihung einräume, auch wenn er darum bitte; die Tür sollte aber nicht für immer zugeschlagen werden. Viel Beifall erntete am Ende der Mediziner Dr. Martin Grabe für seine Worte: „Ich muss sehen, welches Tempo meine Seele braucht“.

Werner Tampe

Hochkarätige Diskussion zu schwierigen Thema.