Jahreskonferenz der SAG: Die Antwort auf die unruhige Zeit ist Europa

"Die Europäische Union ist die intelligente Antwort auf die Veränderungen des 21. Jahrhunderts". Dies machte Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert bei der Jahreskonferenz der Sdružení Ackermann-Gemeinde im Prag deutlich. Rund 120 Teilnehmer aus Tschechien und Deutschland kamen hierzu unter dem Titel „Eine politische (Un)ruhe in Europa? Deutsche und tschechische Wahrnehmung“ zusammen. Die globalisierte digitalisierte Welt führe zunehmend dazu, dass die Nationalstaaten immer weniger „Herr ihrer eigenen Angelegenheit“ seien, so Lammert. Es gebe daher keine Nationalstaaten mehr, die souverän im klassischen Sinne seien. Er plädiert dafür, Souveränität zu teilen, um durch gemeinsames Vorgehen möglichst viel an Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen zu können. Der neue Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hielt den Eröffnungsvortrag der dreitägigen deutsch-tschechischen Konferenz der tschechischen Schwesterorganisation der Ackermann-Gemeinde in Prag. Es war Lammerts erste Auslandsreise in seiner Funktion als KAS-Vorsitzende, darauf machte Matthias Barner, Leiter des KAS-Büros in Prag, hin. Er sehe darin eine Wertschätzung des östlichen Nachbarlandes.

In seinem Grußwort verwies der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler darauf, dass er besonders bei Gesprächen außerhalb Europas den Wert Europas erkannt habe. Von Vertretern der Afrikanischen Union habe er gehört, dass sie das erreichen wollten, was die EU bereits geschafft habe. Kastler stellte klar: „Wir unterschätzen unsere Potentiale.“. Die Ackermann-Gemeinde werde sich aus christlicher Verantwortung weiter für Europa engagieren, bekräftigte er. Dr. Tomáš Jelínek, Direktor des Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, sieht in Tschechien eine gespaltene Gesellschaft. Auf der einen Seite seien die, die Offenheit für Andere zeigten und auf internationale Zusammenarbeit setzten. Andererseits sehen andere in der Abschottung und im Rückzug auf die Nation die Antwort. Gerade letzter Gruppe, müsse man für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gewinnen, mahnt Jelínek.

Lammert verwies in seiner Rede eingangs auf einen ermutigenden Befund: eine große Mehrheit von 71% der europäischen Bürger sehen in der EU einen Ort der Stabilität in einer unruhigen Welt. Dennoch sei der Integrationsprozess aus vielerlei Gründen ins Gerede gekommen, gibt sich der CDU-Politiker besorgt. Die aktuelle Phase des Friedens sei „ein absoluter Ausnahmezustand der europäischen Geschichte“, betont Lammert. „Gewalt ist durch die europäische Integration heute nicht mehr Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen.“ Die Europäer müssten sich von dem Gedanken verabschieden das natürliche Zentrum der Welt zu sein. „Dies ist seit 1918, seit 100 Jahren nicht mehr der Fall.“ Das 21. Jahrhundert sei das „Jahrhundert der Globalisierung“. Nie sie die Welt so groß und zugleich nie so klein gewesen. Durch die Digitalisierung seien Informationen erstmals in der Menschheitsgeschichte an jedem Ort der Welt gleichzeitig verfügbar. Dies mache Grenzen irrelevant. Die Antwort darauf lautet für den ehemaligen Bundestagspräsidenten: „Europa“. Als dringliche Aufgabe sieht er Zusammenhänge zu erläutern. Durch Dialogverweigerung und durch Parolen könne man auf bestehende Ängste in der Bevölkerung nicht reagieren. Man dürfe die Ängste nicht bestreiten, aber man dürfe sie auch nicht bekräftigen, mahnte Lammert.

In der anschließenden Debatte ergriff Karel Schwarzenberg, ehemaliger Außenminister Tschechiens, das Wort. Ihn beunruhige die verlorengegangene Attraktivität der demokratischen Parteien. Dies lasse sich in vielen europäischen und westlichen Ländern beobachten. „Uns gehen langsam die demokratischen Strukturen verloren“, konstatierte Schwarzenberg.

Die Wendemomente der tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts aus heutiger Perspektive standen am zweiten Tag der Konferenz im Fokus. Der Historiker Dr. Petr Koura, Direktor des Collegium Bohemicum in Aussig/Ústí n.L., blickte auf den Oktober 1918, den September 1938, den Februar 1948 und den August 1968. Dabei zeichnete er nach, wie diese Daten für die Einheit beziehungsweise die Spaltung der Gesellschaft standen und stehen. Im Jahr 1918 habe es sowohl eine „Arroganz der Macht“ durch Tschechen wie auch Versuche geben, den Deutschen die Angst vor dem Leben im neuen Staat zu nehmen. Aus heutiger Sicht sei es verwunderlich, so Koura, wie bis 1938 die Demokraten den Aufstieg von Henlein und Hitler zugelassen hätten. Erklären lasse sich dies mit der Propaganda, die funktioniert habe. Es habe aber auch vergebliche Versuche geben, vor dem Münchner Abkommen die Deutschen mit Informationen über die wahren Verhältnisse im Dritten Reich zu überzeugen. „Auch heute ist es zentral die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden“, konstatierte Koura. Als Lehre aus der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 sieht der Historiker, dass man nicht auf demokratische Prinzipien verzichten dürfe. Andere Parteien hätten diese Prinzipien durch ihre Beteiligung an der Entprivatisierung, dem Verbot von Parteien und das Gutheißen der Vertreibung der Deutschen geleugnet. Die Kommunisten hätten zudem die öffentliche Meinung manipuliert und dabei mit dem vermeintlichen Willen des Volkes argumentiert, ohne dieser durch freie Wahlen einen Ausdruck zu verleihen. In den ersten Wochen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 sieht Koura „eine der besten Phasen der tschechischen Geschichte“. Die Bevölkerung habe sie ohne Gewalt und auch mit Humor gegen die Okkupanten gewehrt. Er erinnerte auch daran, dass Zehntausende Tschechen in den Westen flohen. Die Emigranten seien im Westen herzlich willkommen gewesen. „Daran sollte sich die tschechische Gesellschaft mit Blick auf heute erinnern,“ so der Direktor des Collegium Bohemicum. In der anschließenden Diskussion wurde über den Zusammenhalt in Europa und in den einzelnen Gesellschaften diskutiert, der aktuell überall stark gefährdet zu sein scheint. Klaus Prömpers, langjähriger ZDF-Korrespondent mit Stationen in Wien, Brüssel und New York, begrüßte grundsätzlich Unruhe, da diese dazu führe, dass es zu Änderungen komme. Aktuell sieht er jedoch die Gefahr, dass die Stimmung kippen könnte. Die Zustimmung zur EU sei in den Visegrád-Staaten gerade unter den jungen Menschen niedrig. Auch die ehemalige tschechische Abgeordnete Nina Nováková teilt diese Sorge. Sie beunruhige, dass die heute Jugend in Tschechien sich bereits ein Leben außerhalb der EU vorstellen könne. „Dies führt dazu, dass sie sich oft dafür nicht mehr engagieren und nichts mehr hierfür investieren.“ „Zeman und die rechtextreme SPD von Okamura werden dadurch gestärkt, dass auch andere Parteien einfache Parolen übernehmen“, so Nováková. Vielmehr brauche es „differenzierte Antworten“. Koura verwies in der Diskussion unter der Leitung des Journalisten Kilian Kirchgeßner auf die Bedeutung der Aufklärungs- und Bildungsarbeit. Dies führe nach seiner Ansicht zu einem Weg aus der politischen Unruhe.

Professor Tomáš Halík, Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie, Priester und einer der führenden Intellektuellen seines Landes, war Hauptreferenten des dritten Konferenztages. Mit Blick auf den Populismus und die Entwicklungen in Polen und Ungarn machte er deutlich, dass die Bürger nicht ruhig bleiben dürften. Im Aufruf zur Ruhe sehe er eine gefährliche Floskel. Er warnte vor Gleichgültigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen. „Unser Hauptinteresse ist es, nicht isoliert zu sein. Dies wäre für Tschechien wirtschaftlich, wie kulturell fatal“, macht Halík deutlich. Es gehe um „eine Therapie der Angst“. „Mangel an Glauben“ und „eine geistliche Blindheit“ diagnostizierte Halík für die tschechische Gesellschaft. Dies mache es Demagogen leicht. Der neue Populismus sei jedoch nicht nur auf Ostmitteleuropa begrenzt. „Kein Land ist vor dieser Seuche geschützt“ meint der Geistliche. Eine machtpolitische Förderung erhalte der Populismus durch das autoritäre System von Putin, ist sich Halík sicher. Dieser führe einen Informationskrieg gegen den Westen, um das Vertrauen in die EU und in einander zu zerstören. Sorge bereit ihm, dass die Propaganda auch Erfolg unter den Christen zeige. Der Populismus baut dabei auf der „Krise der Identität“ auf. „Die aktuelle Angst vor dem Verlust der Identität verrät, dass die Identität schon lange nicht mehr da ist“, so Halík. Eine große Gefahr sieht er auch im unkritischen Verhalten von kirchlichen Repräsentanten gegen über den Machthabern. Halík konstatiert auch für die Kirche in Tschechien und im Episkopat eine Spaltung. Die Gesellschaften und mit ihnen die Kirchen stünden am Beginn einer neuen Phase. Die Zeit der Modernität sei abgeschlossen. Mit Papst Franziskus reagiert die Kirche nun auf „die neue Ära der radikalen Pluralität einer globalen Welt“. Zu lange sei die Polarisierung in der Kirche politisch verstanden worden. Dies greift aus Sicht des Theologen zu kurz. „Wir brauchen eine Vertiefung der Spiritualität und der Theologie,“ fordert Halík. Hoffnung setzt er auf eine „öffentliche Theologie“, die fähig sei, verständlich auch in einer säkularen Öffentlichkeit Standpunkte zu vertreten. Diese fehle in Ostmitteleuropa jedoch noch, bedauert Halík.

Der deutsche Botschafter in Prag, Dr. Christoph Israng, machte in der anschließenden deutlich, dass es auch in Deutschland „krisenhafte Phänomene der liberalen Demokratie“ gebe. Zugleich ermutigte jedoch gerade als Christen den Optimismus und die Hoffnung nicht zu verlieren. Dazu zitierte er Václav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Er rief dazu auf, die Spaltungen zwischen den Nationen und in den Nationen zu überwinden. In diesem Zusammenhang würdigte er das Wirken von Ackermann-Gemeinde und Sdružení Ackermann-Gemeinde. Dr. Jaroslav Šebek blickte auf den zurückliegenden Wahlkampf um das Präsidentenamt in Tschechien. Der Historiker der Akademie der Wissenschaften gehörte zum Wahlkampfteam von Professor Jiří Drahoš. In dem Wahlkampf habe es 1,5 Millionen Mails mit gezielten Falschinformationen gegeben. Er sieht es als einen großen Auftrag, die Menschen zu befähigen, um sich im digitalen Raum richtig bewegen und mit ihm umgehen zu können. Beim Wahlkampf von Drahoš habe er eine starke positive Energie der Zivilgesellschaft gespürt. „Wir machen uns Gedanken, wie wir diese positive Energie für die Zukunft weiter nutzen können“, erläuterte Šebek. Der Generalsekretär der Tschechischen Bischofskonferenz P. Dr. Stanislav Přibyl sieht wenig, worauf sich die Menschen heute stützen könnten. Dies sei seiner Ansicht nach die Ursache für zunehmende Angst. Die Kirche als Religion des Wortes habe keine andere Waffe als das Wort. Es sei jedoch schwer gegen Entwicklungen anzukämpfen, wenn die Worte durch den ständigen Missbrauch in der heutigen Zeit keinen Inhalt mehr hätten. Halík forderte abschließend Vision und Synergien. Er ruft dazu auf, auch Menschen außerhalb der Kirche und in der Zivilgesellschaft einzubinden. Letztlich brauche es wieder eine emotionale Beziehung zu Europa, so Halík.

Im deutsch-tschechischen Gottesdienst in der Kirche St. Johannes Nepomuk auf dem Felsen der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Prag stellte P. Dr. Martin Leitgöb, Geistlicher Beirat der Sdružení Ackermann-Gemeinde, am Samstagabend mit Blick auf das Evangelium die Frage: „Wie gehen wir mit Marginalisierten heute um?“. Er zitierte die Aussage von Papst Johannes Paul II. „Der Weg der Kirche ist der Mensch" und übertrug es auf das Thema der Konferenz: „Der Weg Europas ist der Mensch.“ Diesen Fokus auf den Menschen dürften die Christen nicht aus dem Auge verlieren.

Die Schlüsseljahre der tschechischen Geschichte prägten nach dem Vortag von Dr. Koura auch das Nachmittagsprogramm am Samstag. Es wurden verschiedene Orte in Prag besucht, wie die Václav-Havel-Bibliothek mit einer neuen Ausstellung zum Dichterpräsidenten, eine Ausstellung zu Pavel Tigrid, einer „Stimme der Freiheit“, und eine Ausstellung zur „Charta 77“. In einem biographischen Gespräch wurde der Jesuitenpater František Lízna vorgestellt. Er litt als politischer Gefangener unter dem kommunistischen Regime und wurde im vergangenen Herbst mit dem Preis „Paměť národa“ (Nationales Gedächtnis) als wichtiger Zeitzeuge geehrt. Zudem führte ein kommentierter Stadtrundgang auf den „Spuren der schicksalhaften 8-er Jahre“ Konferenzteilnehmern durch Prag.

Dr. Petr Křížek dankte in Vertretung des erkrankten Vorsitzenden der Sdružení Ackermann-Gemeinde, Kulturminister a.D. Daniel Herman, der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, Renovabis und dem Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde für die Förderung dieser Konferenz. Es herrsche derzeit das Gefühl, so Křížek, dass die Idee des gemeinsamen Europas langsam verschwinden könnte. Dagegen anzugehen, sah er als ein wichtiges Ziel der diesjährigen Konferenz in Prag. Die Beiträge der Referenten zeigten, dass der Einsatz für ein Miteinander in Europa heute dringlich gebraucht werde.

ag