Kardinal Schönborn mit Appell zur Differenzierung

Der Träger des Europäischen Karls-Preis der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Kardinal Dr. Christoph Schönborn, Erzbischof von Wien, stand nach der Verleihung dieser Auszeichnung Rede und Antwort beim Biografischen Gespräch der Ackermann-Gemeinde. Unter dem Titel „Über Gott und die Welt“ unterhielt sich der Dramaturg Rainer Karlitschek, Mitglied des Bundesvorstands der Ackermann-Gemeinde, mit dem Oberhirten.

Zur Biografie einer Person gehören bekanntlich die Vornamen – und derer hat der Wiener Kardinal gleich sieben, darunter auch „Adalbert“ - also den Heiligen Adalbert von Prag. Und natürlich hat er nicht nur aufgrund seiner Geburt am 22. Januar 1945 in Skalken bei Leitmeritz Bezüge zu Böhmen und Mähren. Seine Eltern heirateten 1942 in der Prager Kirche Maria vom Sieger, wo sich das Prager Jesulein befindet. Seinen Vater, der an der Front war und als Adeliger nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gefährdet war, lernte er erst nach dem Krieg kennen. Doch die Ehe der Eltern ging im Jahr 1958 auseinander, so dass der heutige Wiener Kardinal stärker durch seine Mutter und deren Familie geprägt wurde. „Ich habe viel weniger die Erfahrungswelt meines Vaters kennengelernt“, blickte der Oberhirte zurück. Dafür bekam er mehr von der mährischen Heimat der Mutterfamilie mit: so unter anderem die landwirtschaftlichen Grundlagen und die Region um Wischau. Doch väterlicherseits, also seitens des Adelsgeschlechts der Schönborner, war ein Aspekt nicht zu vernachlässigen: acht Bischöfe und drei Kardinäle entsprossen diesem Geschlecht, der Kardinal sprach zu Recht von einem „Bischofsgen“. Über das deutsch-tschechische Verhältnis in den böhmischen Kronländern wurde, so Kardinal Schönborn, zuhause viel gesprochen – und differenziert. „Meine Mutter hat sehr früh festgestellt, dass die Situation der deutschsprachigen Bevölkerung eine andere war als die der Adelsfamilien“, führte der Kardinal aus. Denn nach der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620 mit der Niederlage des Böhmenkönigs Friedrich V. kamen Adelige aus anderen Regionen nach Böhmen und Mähren, also neue Großgrundbesitzer, die letztlich über die folgenden drei Jahrhunderte nicht genügend integriert und verwurzelt, vielmehr zum Teil elitär waren. Auch in den Optionen für einen deutschen oder tschechischen Staat im Jahr 1919 drückte sich dies deutlich aus. Die Mutter des Kardinals charakterisierte die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg demnach als „Endpunkt dessen, was am Weißen Berg geschehen ist“.

Die Vertreibung ist dem Kardinal – damals ein Säugling – nur aus Schilderungen der Mutter und deren Geschwister bekannt. Es ging per Auto bzw. zu Fuß nach Österreich, und trotz der schrecklichen Rahmenbedingungen fühlten die Frauen ob der gewonnenen Freiheit Glück. Daher bezieht der Kardinal den Begriff „Heimat“ („ein wunderschönes Wort“) auch auf die Aspekte Glaube und Familie. Er verwies auf Leute, die durch traumatische Erlebnisse wie den Heimatverlust gläubiger geworden sind. „Heimat hat unendlich viel mit Familie zu tun. In Krisensituationen funktionieren die Familien am besten“, brachte er es auf den Punkt. Konkret waren das im Fall seiner Mutter die Cousine bzw. Tante, die für den ersten Winter Unterschlupf boten. Und bei Jesus am Kreuz standen bekanntlich neben dem Lieblingsjünger Johannes seine Mutter, die Schwester seiner Mutter (Tante) die Frau des Klopas (wohl der Bruder Josefs, d.h. eine weitere Tante) und Maria von Magdala. Natürlich verschloss der Wiener Oberhirte nicht die Augen vor weniger gut funktionierenden Familien heute.

Ein bekanntes Wesensmerkmal Kardinal Schönborns, die Behutsamkeit im Urteil, wurde in seiner Einschätzung der Vertreibung deutlich – wobei er, als Theologe, auch gleich eine Stellungnahme zum Dogma abgab. „Ein Dogma ist nicht ein Dreschflegel, sondern ein Fenster, das in die Landschaft öffnet!“ Aber zurück zur Vertreibung in der Sichtweise des Wiener Kardinals: „Uns Landsleuten ist ein unglaubliches Unrecht geschehen. Inzwischen haben wir aber gelernt, dass es auch eine Schuld von Deutschen gegen Tschechen gibt. Das ist schwer zu verkraften, aber es ist so. Und es gibt keine Kollektivschuld, wie es auch nicht die Tschechen und die Deutschen gibt. Das Differenzieren setzt eine große, eigene innere Freiheit, ja Selbständigkeit voraus. Das haben wir bei unserer Mutter gelernt. Wir müssen aushalten, dass komplexe Dinge komplex sind, dass man nicht mit Schwarz-Weiß-Antworten zurecht kommt, dass das Gute und das Böse genannt wird.“

Auch in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion plädiert der Kardinal für diese Differenzierung – weil die Ursachen der Fluchtwelle eben komplex sind, und Europa zumindest auf diese Menge nicht vorbereitet war. Der Oberhirte wehrt sich auch gegen einfache, „einfarbige Urteile“. „Es sind Menschen, mit denen wir umgehen müssen. Es kann auch bedeuten, dass wir sie wieder zurückschicken. Das Wort ‚Asyl‘ darf bei uns nicht zum Schimpfwort werden. Schon in der Bibel steht, dass der Flüchtling geschützt werden muss. Er steht unter dem besonderen Schutz Gottes“, erinnerte Kardinal Schönborn unter anderem an die Sätze im Buch Levitikus. Die Komplexität bezog er auch auf die unterschiedlichen Haltungen der europäischen Bischöfe in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. Aber, so seine Erfahrung, in Pfarrgemeinden aufgenommene Flüchtlinge integrierten sich am schnellsten. Mit der Aussage seiner Mutter „Niemand verlässt seine Heimat freiwillig“ beendete Kardinal Schönborn diesen Themenkomplex. Und etwas pointiert verwies er darauf, dass es über die Generationen bzw. Jahrhunderte auch in Österreich und Deutschland genetisch fremde Einflüsse gab. „Wir sind alle – genetisch – Mischlinge“. Insofern ist für ihn Heimat „nicht ein Ort, wo nur Menschen wie ich Platz haben. Heimat darf kein exklusiver Begriff sein.“

Zusammenfassend riet Kardinal Schönborn den zahlreichen Zuhörern, mit schwierigen Situationen kreativ umzugehen. „Die Sudetendeutschen haben aus der schwierigen Situation unglaublich viel gemacht“, zollte er höchste Anerkennung.

Natürlich stand der neue Träger des Europäischen Karls-Preises der Sudetendeutschen Landsmannschaft im Anschluss an das Gespräch für Selfies, Fotos und Small-Talk zur Verfügung.

Markus Bauer