November-Themenzoom der Ackermann-Gemeinde zum Krieg im Gaza-Streifen

Die Hamas will keinen säkularen, palästinensischen Staat

Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, der bis heute die Weltpolitik beherrscht, war Inhalt des November-Themenzooms der Ackermann-Gemeinde. Dass an 88 PCs ca. 120 Personen versammelt waren und die übliche Zeit stark überschritten wurde, zeigt das starke Interesse an dem Thema. Unter dem Titel „Der Konflikt zwischen Israel und Palästinensern – ein Versuch, wieder eine Sprache zu finden“ klärte der in Israel lebende Georg Rössler, selbst Mitglied der Ackermann-Gemeinde und als Reiseleiter, Autor und De-Eskalationstrainer tätig, über viele Details, Hintergründe und Aspekte auf. Denn gerade bei diesen Vorgängen bzw. dieser Thematik sind Differenzierungen und exakte Einordnungen wichtig.

 

Direkt aus Israel war Rössler zugeschaltet. Er verwies einleitend auf die Sprachlosigkeit und stellte fest, dass diese Ereignisse „schwierig in eine Linie zu bekommen“ seien. Von der Dimension her bedeute der Überfall am 7. Oktober ein Vielfaches der Attentate vom 11. September 2001 in New York. „Israel ist klein. Jeder kennt Menschen, die unmittelbar betroffen waren oder Betroffene in ihrem Umfeld benennen können“, charakterisierte der Referent den durchaus als Trauma zu verstehenden Terrorakt bzw. den damit seitens der Hamas begonnenen Kampf bzw. Krieg gegen Israel. Rössler erinnerte an die intensive militärische Vorbereitung, auch durch das unterirdische Tunnelsystem. „Die Bevölkerung im Gaza-Streifen ist eine Geisel ihrer eigenen Regierung geworden“, konkretisierte er und machte deutlich, dass Opfer in der Zivilbevölkerung unvermeidlich seien. Zudem würden Waffenpausen für humanitäre Hilfen nur die Hamas begünstigen. Ferner würde dies Israel seine Abschreckungsfähigkeit kosten und wäre eine Einladung an andere Feinde Israels, dieses Land militärisch anzugreifen.

In einem weiteren Schritt ging Rössler detaillierter auf die Hamas ein. Diese sei „nicht nur ein Stachel im Fleisch des israelischen Staates, sondern wird auch von der arabischen Welt überhaupt nicht gemocht – im Gegenteil: sehr gefürchtet“, verdeutlichte der Referent und charakterisierte sie eindeutig als „islamistisch-fundamentalistische Bewegung“. Doch die Identität der arabischen Bevölkerung sei der Grund für große Zustimmung, wobei die sunnitisch-arabischen Regierungen in der Region Israels Aktivitäten dulden. „Die arabischen Länder haben gegenwärtig eine furchtbare Angst vor einem expandierenden Iran. Sie suchen ein Sicherheitsbündnis mit dem Westen und mit Israel – und wollen sich in Richtung Westen neu orientieren“, so Rössler. Doch er nannte auch die Proteste gegen Israel vor allem von der westlich-liberalen Linken, womit er zu den unterschiedlichen Prämissen bzw. Aspekten kam, die hintergründig mit in die Thematik hineinspielen.

So etwa das Thema „Dekolonisierung“ mit den Begriffen Kolonialismus und Imperialismus bzw. der Sicht Israels als ein „spätkolonialistisches Bollwerk“. Oder auch die Parole „Ein freies Palästina“ und den damit verbundenen Befreiungskampf. „Wir müssen uns sehr klar machen: worüber reden wir? Ist der Kampf der Hamas ein Befreiungskampf im Rahmen dieser antikolonialistischen Aufbruchbewegung oder vielleicht etwas anderes?“, fragte Rössler. Für ihn wird nicht scharf genug zwischen religiös-ideologischen Gruppen und nationalen Befreiungsbewegungen unterschieden. Dass es sich bei den Palästinensern um alles andere als eine heterogene Gruppierung handelt, stellte er in diesem Kontext fest. Zwar gebe es ein palästinensisches Volk, das sich als Schicksalsgemeinschaft begreift und sich als „Volk“ beschreiben darf. Durch historische Ereignisse seien jedoch mehrere Palästinenser-Gruppen präsent: die 1948 nach Jordanien geflohenen sowie die im gleichen Jahr in Israel gebliebenen, die im Krieg 1967 geflohenen Palästinenser, die eher säkular ausgerichtete Fatah in den palästinensischen Autonomiegebieten und schließlich die fundamentalistisch-islamistische Hamas.

Auf deren in der eigenen Charta fixierten Ziele kam Rössler dann zu sprechen. Nicht die Befreiung von Palästina zugunsten eines palästinensischen Staates sei die Zielsetzung der Hamas, sondern die Reintegrierung der Region Palästina in einen islamisch übergeordneten Bereich. Denn dieses Gebiet sei von Allah geschenkt und könne daher nur von Muslimen verwaltet werden, erläuterte der Vortragende. „Hier ist nicht mehr die Rede von einem palästinensischen Staat, der eher säkular ausgerichtet wäre. Die Hamas will keinen säkularen, palästinensischen Staat, sie kämpft für einen muslimischen bzw. islamistischen Staat – und da ist dann weder für säkulare Palästinenser noch für den Staat Israel selber Platz.“ Damit entlarvte Rössler den besonders aus der westlichen Welt kommenden Etikettenschwindel, wonach der Kampf der Hamas als legitimer Befreiungskampf der Palästinenser, die einen eigenen Staat anstreben, identifiziert wird. „Hier schaut die ausländische Welt nicht ausreichend differenziert auf die Hintergründe“, schloss er diesen Teilaspekt.

Als weiteren vielfach in die Diskussion gebrachten Punkt griff Rössler den Antisemitismus auf – „ein irrsinnig komplexes und kompliziertes Thema“. Zu differenzieren sei zunächst zwischen antisemitischen Äußerungen/Haltungen und Kritik, die man teilen kann oder nicht teilen muss, aber als solche ihre Berechtigung hat. Beim Umgang mit Antisemitismus ist für Rössler besonders die Emotionalität zu betrachten. „Ich habe die Vermutung, dass der Emotionshaushalt im Hinblick auf das, was mit und um Israel herum geschieht, um ein Wesentliches höher ist als das, was an anderen Konfliktherden bezüglich anderer unterdrückter bzw. vertriebener Völker und Volksgruppen dieser Welt passiert“, analysierte der Referent. Und er sah es problematisch, mit welcher Selbstverständlichkeit im Kontext dieses Krieges Juden in Deutschland und in der Welt wieder Opfer werden.

Einer der schwierigsten Aspekte ist die Frage der zivilen Opfer im Gaza-Streifen bzw. der so genannten Kollateralschäden. „Es gibt keine Vorbilder dafür, dass Kollateralschäden im Rahmen von Kriegshandlungen in anderen Kontexten verurteilt worden wären“, stellte Rössler fest und nannte Beispiele aus der Geschichte und Gegenwart – auch bei der Beseitigung autokratischer oder faschistischer Diktatoren und damit verbundener Kämpfe. „Die Hamas hat aufgrund ihrer eigenen, selbst beschriebenen Zielsetzungen überhaupt kein Problem damit, Zivilisten zu opfern in ihrem Kampf gegen den größten Todfeind des Islam – und das ist für viele Muslime tatsächlich das Judentum. Wer als Kollateralschaden in so einem Waffengang zu Tode kommt, ist erst einmal ein Märtyrer (…) und hat den kurzen Amtsweg ins Himmelreich gefunden. Es gibt da auch kein Unrechtsbewusstsein. Interessant ist, dass wir in der westlichen Welt nie eine solche Verbindung herstellen und es eigentlich keine Stimme gibt, die sagt: ‚Befreit Palästina vom Hamas!‘ Zugunsten eines Staates Palästina, den sich viele Menschen hier wünschen“, sprach Rössler klare Kante.

Im vorletzten Teil des Vortrags ging der De-Eskalationstrainer der Frage nach, inwieweit der grundsätzliche Ansatz der Ackermann-Gemeinde, die Anerkennung gegenseitigen Leids und eigener Schuld, als Lösung für den aktuellen Krieg bzw. den Nahost-Konflikt insgesamt anwendbar sei. Prinzipiell sieht er dies skeptisch, da neben den territorialen Ansprüchen auf das gleiche Territorium durch unterschiedliche Gruppen „revanchistische Ansprüche“ damit einhergehen. Ein Bekenntnis eigener Schuld und das Anerkennen des Leids des anderen sei somit gegenwärtig nicht denkbar. „Für eine spätere Zukunft springt mir immer noch das vor, was der Ackermann will: am Ende des Tages geht es ja – und das ist die Idee der Ackermann-Gemeinde – um den gerechten Frieden“, nannte Rössler einen weiteren Punkt, den er aber postwendend relativierte. „Es gibt keinen gerechten Frieden! Es gibt entweder Gerechtigkeit oder es gibt Frieden. ‚Gerechter Friede‘ kann für diese Region nicht bedeuten, irgendetwas zurückzuwerfen, zurückrollen zu lassen, was früher mal war, sondern nur in einem gemeinsamen Denken aus dem Hier und Jetzt mit dem Ziel: ‚Wir wollen eine Zukunft haben! Wie kriegen wir die am besten hin?‘ Daraus werden dann neue Wege entstehen müssen, was dann auch verwirklicht, was Ackermann vorgemacht hat, nämlich in einem gegenseitigen sich Zusprechen: ‚Ich sehe das, was du erlitten hast, und ich kann das auch in mein Herz hereinlassen.‘“ Ein solcher Exkurs ist für Rössler in Israel/Palästina derzeit noch problematisch, weil noch zu viel Revanchismus im Raum steht.

Mit dem Punkt „Konzeptualisierung“ (abstrakte, vereinfachte Sicht auf einen ausgewählten Teil der Welt, die die Objekte, Konzepte und anderen Entitäten enthält, die für einen bestimmten Zweck als interessant angesehen werden) schloss Rössler seinen Vortrag, da dieser Aspekt seit dem 7. Oktober immer wieder zu Tage tritt. Konkret handelt es sich um das „Massakrieren und Misshandeln“ von Menschen – und ob dies überhaupt im Kontext einer Freiheitsbewegung vorstellbar ist? Dann geht es um den Begriff „Besatzung“. „Hier wird wahrscheinlich nicht ausreichend sauber unterschieden, worüber man eigentlich spricht“, wandte Rössler ein. Denn seit 2005 sind im Gaza-Streifen keine Israelis mehr. Danach erfolgte zwei Jahre lang die Kontrolle vom Westjordanland aus, ehe „2007 der Gaza-Streifen von den Hamas brutal erobert wurde, mit Hunderten von Toten auf Seiten der Fatah-Regierung. „Von welcher Besatzung spricht man, wenn es keine Besatzung gibt?“, lautete die rhetorische Frage des Referenten. Schließlich sei der Begriff „Befreiung“ zu hinterfragen. „Von was für einer Befreiung reden wir? Ist eine Hamas-Regierung – eine islamische Regierung – eine Befreiungsbewegung in einem westlichen dekolonialistischen Sinne oder eben doch eine religiös inspirierte Bewegung? Solange wir in einem westlich-liberalen-säkularen Diskurs verbleiben, der auch antikolonialistisch geprägt ist, haben wir eine klare Vorstellung, ein klares Bild von der Welt und wo die Guten bzw. die Bösen sind“, kritisierte Rössler. Er mahnte zur Bereitschaft, „das gegenwärtige Auftreten islamistischer Bewegungen in der Welt in einen für uns gültigen Kontext zu bringen“. In diesem Kontext erinnerte er an historische Beispiele für religiösen Fanatismus auch bei Christen. In Bezug auf die offen nachzulesenden und bereits erwähnten Ziele der Hamas schloss er mit dem folgenden Gedanken: „Warum glauben wir eigentlich der arabischen Welt und warum glauben wir der islamistischen Welt nicht das, was sie sich selbst sagt und was sie uns sehr sehr offen sagen? Warum denken wir, dass sie es vielleicht gar nicht so meinen, wie sie es sagen?“

In der Diskussion fragte Moderator Rainer Karlitschek zunächst nach dem aktuellen Stand der vor dem 7. Oktober überaus starken Demonstrationen und Proteste für die Demokratie vor dem Hintergrund der nun installierten Regierung der nationalen Einheit in Israel. „Alle stehen aktuell hinter dem Krieg. Wenn der nicht gewonnen wird, wäre das eine Einladung für eine größere Offensive aus der arabischen Welt“, meinte Rössler dazu. Doch für die Zeit nach dieser Auseinandersetzung rechnet er mit der Einsetzung einer unabhängigen Kommission und ferner damit, „dass die gegenwärtige Regierung Netanjahu mit Pauken und Trompeten abgesägt wird“. Auf die Nachfrage Karlitscheks zur Wirksamkeit von Friedensinitiativen bzw. -projekten war Rössler überzeugt, dass solche Aktionen nicht viel brächten. Darüber hinaus herrsche in Israel jetzt eine große Skepsis und Angst vor Arabern insgesamt – „und das ist eine der schlimmsten Schädigungen, die uns aus dem 7. Oktober entstanden sind“, so der Vortragende. Daher stocke aktuell auch der arabisch-israelische Dialog und damit auch Ansätze oder Annäherungen für politische Lösungen. Für Israel hofft Rössler auf eine neue Regierung, für die Palästinenser im Gaza-Streifen auf einen „charismatischen Führer aus ihrer eigenen Mitte“, um – möglicherweise mit amerikanischer Unterstützung – „nochmals einen Neuanfang zu starten“. Konkret gehe es dann auch um die Zweistaatenlösung, die – so Rössler – „aufgrund von israelischer und palästinensischer Schuld 30 Jahre nicht vernünftig bedient worden ist.“

Weitere Fragen beschäftigten sich mit der Rolle der Kirchen und Religionen, wobei für Rössler hier einzig die jüdische und die muslimische Seite entscheidend und einflussreich ist, und Tipps für Lehrer bzw. den Unterricht. Hierzu verwies der Referent unter anderem auf die völlig andere politische Sozialisation von jugendlichen Migranten aus muslimisch geprägten Ländern (Antisemitismus, andere Interpretation der liberalen Demokratie usw.). „Hier muss die deutsche Seite klare Kante zeigen – was gilt und was geht bzw. nicht geht“, wurde Rössler deutlich. Außerdem empfahl er, in Gesprächen eher Fragen zu stellen, ohne Wertungen damit zu verbinden. Hinsichtlich des erwähnten Etikettenschwindels der islamistischen Organisationen stellte ein Teilnehmer die Gegenfrage, ob die westliche Welt sich nicht auch über die Ziele der (momentanen) israelischen Regierung verblenden lässt? „Das Experiment einer solchen Rechtsregierung wird sehr bald gekappt sein“, wiederholte Rössler, der aber auch die aktuellen Entwicklungen im Westjordanland, die zunehmende Radikalisierung der Siedler dort und die Auswirkungen auf das Zusammenleben, nicht verschwieg. Der Umgang jetzt mit diesen sei für die israelische Regierung höchst diffizil, auch wegen „mancher üblen Gestalten in der gegenwärtigen israelischen Regierung“.

Markus Bauer

Der Reiseleiter, Autor und De-Eskalationstrainer Georg Rössler bei seinen Ausführungen.