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Schwieriges Erinnern

„Ich kann es, nach so vielen Jahren, noch immer nicht wirklich beschreiben: dieses Gefühl des totalen Ausgeliefertseins am Randes des Abgrunds“ Max Mannheimer, jüdischer Sudetendeutscher und Auschwitz-Überlebender, hat dies in seinem neuesten Buch als die Grunderfahrung im KZ Auschwitz-Birkenau und Auschwitz I beschrieben – eine Erfahrung, die Millionen Menschen mit ihm teilten. Und: „Ich kann nicht hassen“.

Als Max Mannheimer längst als international gefragter und hochgeschätzter Zeitzeuge bekannt war, nahmen „die" Sudetendeutschen ihn immer noch kaum als ihren „Landsmann" wahr. Jüdisches Opferschicksal wurde aus der „Vertreibungsopfer"-Wahrnehmung von 1945-1947 ausgeblendet. Spiegelbildlich wurden dann in Deutschland tatsächliche Vertreibungsleiden und Heimatverlust polemisch vor allem von der sogenannten „68er"-Generation relativiert und unter einem allgemeinen deutschen Schuldgefühl subsumiert. 60 Jahre lang bestimmte diese oft von erheblicher Unkenntnis getragene und gelenkte publzistische, ja sogar wissenschaftliche Debatte die öffentliche und veröffentlichte Wahrnehmung.

Und Max Mannheimer, dieser kleine freundliche Mann, Lebenspendler zwischen dem mährischen ,Kuhländchen´, Oberbayern und Zentral-Israel: Was war von ihm zu erwarten?

Und doch ist gerade sein "zweites Leben" , trotz Auschwitz und Dachau, nicht zum negativen ethischen Maßstab für sein "drittes Leben" nach 1945 geworden. Insofern "erzählte" er und berichtet weiterhin sinnverwandt, was der 1997 verstorbene Wiener Neurologe und Psychiater Viktor Frankl bereits vor mehr als 20 Jahren analytisch dargestellt hat: „Der Außenstehende, der niemals selbst in einem Konzentrationslager war, der Uneingeweihte, macht sich überhaupt gewöhnlich ein falsches Bild von den Zuständen im Lager [...] ,insofern er vom harten gegenseitigen Kampf ums Dasein nichts ahnt."

Dieser kurze Blick auf die finstersten Seiten der NS-Gewaltherrschaft in großen Teilen Europas muß geradezu notwendig der Vorstellung eines Buches vorangestellt werden, das sozusagen eine spiegelbildliche Umkehrung darstellt: die nüchterne Untersuchung der Anfangsformen institutioneller, zentralisierter Zusammenschlüsse deutscher Heimatvertriebener nach 1945; sie waren ja weitgehend, wenn nicht gar in manchen Bereichen vollständig, vom Ausblenden der Wahrnehmung der totalitären Ideologie und politischen Wirklichkeit Hitler-Deutschlands bestimmt. Viele Funktionsträger führten ihre politischen Vorstellungen auch in den neuen (west-)deutschen Staat und die Herausbildung neuer demokratischer Inhalte und Formen hinein , so dass in der Gesellschaft ein Negativbild dieser durchaus heterogenen "Flüchtlings"-Gesellschaft entstand, sich sodann verfestigte und Formen "kollektiver Wahrnehmung" annahm, die Jahrzehnte hindurch eine rationale Auseinandersetzung und Beschäftigung nahezu ausschloß´- von der Publizistik bis zur Wissenschaft.

So wurde dann mehr als ein halbes Jahrhundert lang die Debatte um die Vertriebenen-Organisationen und ihre führenden sowie mittleren Funktionäre zumeist in einem Schwarz-weiß-Schema geführt. Das hat sich erst im Jahre 2012 grundlegend geändert. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte hat mit der 2012 fertiggestellten Untersuchung eine solch klare wissenschaftliche - und darauf aufbauend - gesellschaftspolitische Positionierung vorgenommen, dass künftig keine seriöse Beschäftigung mehr gerade diese Publikation wird ignorieren dürfen, denn: "Es ist wichtig, diese Debatte ernsthaft zu führen und nach wissenschaftlichen Kriterien möglichst zu objektivieren. Sie leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft über ihre NS-Vergangenheit und ihren wechselhaften Umgang mit derselben; sie ermöglicht auch dem „Bunde der Vertriebenen" (BdV) und darüber hinaus allen Vertriebenen bzw. deren Nachfahren eine selbst-kritische Auseinandersetzung."

Daher ist diese umfangreiche Studie so weitgefächert und setzt demgemäß bereits bei der "Charta der Heimatvertriebenen" von 1950 an; erstmals in der gesamten deutschen Nachkriegs-Geschichtsschreibung wird dieses Dokument differenziert betrachtet und bewertet. Es fällt nur auf, dass die rund 8 Monate zuvor 1949 in Eichstätt verabschiedete "Adventserklärung" - deren Elemente substantiell in die "Charta" eingingen, überhaupt nicht genannt, ja nicht einmal erwähnt wird, obwohl sie Bundeskanzler Adenauer vorgelegt wurde und zu scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der Vertriebenen führte (v.a.innerhalb des „Sudetendeutschen Lagers" zwischen Lodgmann von Auen und Emil Franzel).

Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, wenn diese Veröffentlichung – 80 Jahre nach den letzten machtpolitischen Vorbereitungen zur Usurpierung der Macht in Deutschland durch Hitler und die NSDAP – als eine wissenschaftliche Zäsur in der Durchleuchtung der Vertriebenen-"Strukturen" anzusehen ist. Es ist keine einfache Lektüre, sie wird manchen heutigen BdV-Funktionär desillusionieren, aber auch viele besserwisserische Vertriebenen-"Gegner" zur Wissensstandüberprüfung nötigen.

Ein Buch, das einen wesentlichen Beitrag zur Erhellung der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland darstellt und damit zum künftigen Informations- und Urteilsbildungsbestandteil gehören wird.

Damit erhält aber auch Max Mannheimer – der friedliche, warme Versöhnungsmensch – endlich seinen wirklich angemessenen Platz in der Mitte der Gesellschaft.

Dr. Otfrid Pustejovsky

Max Mannheimer im Gespräch mit dem<br />AG-Bundesvorsitzenden Martin Kastler MdEP