Sehnsucht nach Versöhnung und friedlichem Zusammenleben

Ein Seminar zu Přemysl Pitter begleitete die Wanderausstellung „Europäischer Humanist. Přemysl Pitter“, die vom 4. bis 15. Juli erstmals in Nürnberg in der Kolpingakademie gezeigt wurde. Darin wurde unter dem Thema „Přemysl Pitter – Ein Leben für Humanität, Frieden und Versöhnung“ in Vorträgen das Leben und Wirken dieses Wohltäters gewürdigt. Höhepunkt waren jedoch die Schilderungen von drei früheren „Pitter-Kindern“, die Přemysl Pitters Tätigkeiten persönlich erlebt haben (siehe rechts Gruppenbild der „Pitter-Kinder“: Hans Wunder, Brigitte Zarges und Pavel Kohn mit AG-Bundesgeschäftsführer Matthias Dörr). Deutlich wurde in diesen Erlebnisberichten sowie in den Referaten, dass sich Pitter auch sehr stark für die Versöhnung von Deutschen und Tschechen eingesetzt hat.

„PřemyslPitter war eine Gestalt, der man wirklich gerne zugehört hat“, fasste Pavel Kohn zusammen. Als eines von etwa 100 jüdischen Kinder (von 15.000) überlebte er das Konzentrationslager Theresienstadt und kehrte nach Prag zurück. „Ich hatte niemanden, wohin ich gehen sollte. Es tauchten andere Kinder aus anderen Lagern auf, die von Pitters Schlössern erzählten. Da bin ich auch dorthin gefahren und habe im Alter von 15,5 Jahren PřemyslPitter und Olga Fierz getroffen“, blickte Kohn zurück.

Ein deutsches „gerettetes Kind“ war die damals zwölfjährige Brigitte Zarges. Im Prager Sokol-Stadion wurden die Deutschen „zu Tausenden zusammengepfercht“, so Zarges, wo sie auf den Transport nach Deutschland warten mussten. Nach einer Intervention Pitters wurden dort die Bedingungen gelockert, Zarges kam in eines von Pitters Schlössern. Hier war sie mit jüdischen Kindern zusammen, sodass beide Seiten vom Schicksal des jeweils anderen Volkes erfuhren. Eineinhalb Jahre war sie in Pitters Kinderheim, dank dessen und Olga Fierz' Bemühungen konnte auch Zarges Mutter gefunden werden. „Heute würde man sagen: Er hatte Charisma. Er ist alles ruhig und menschlich angegangen, er ist auf jedes einzelne Kind eingegangen“, charakterisierte Zarges den Wohltäter. Prägend für sie waren auch andere Wesensmerkmale Pitters. „Ich habe durch ihn Toleranz und Verständnis für andere gelernt, habe nie Hassgefühle gegen Tschechen und gegen Menschen entwickelt“.

Aus dem Lager Theresienstadt, in dem am Ende des Krieges Deutsche interniert waren, wurde auch Hans Wunder gerettet. Der Berliner war 1944 angesichts der Bombardierung in die Region Reichenberg evakuiert worden. Ein Jahr später traf ihn das Schicksal der Vertreibung, er landete zunächst im Sokol-Stadion, dann in Theresienstadt. „Eines Tages wurden die Kinder bis elf Jahre mit einem Rot-Kreuz-Lastwagen nach Prag transportiert. Dort stiegen wir in einen anderen Wagen um, wo es direkt zum Schloss Štiřín ging, wo auch jüdische Kinder waren, und dann ins Schloss Kamenice. „Pitter war von einer Sehnsucht nach Versöhnung und gegenseitigem friedlichen Zusammenleben erfüllt“, fasste Wunder zusammen.

Diese Aussage bekräftigen auch die Referenten. Pavel Kohn, früher Mitarbeiter beim Radio Freies Europa, beleuchtete Pitters Leben, in dessen Familie tschechisch und deutsch wurde. Prägend seien für Pitter die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gewesen, wo er zweimal als Soldat und Deserteur der österreichischen Armee Hinrichtungen entkam und dadurch ein „gläubiger Christ und Pazifist“ wurde. Pitter kümmerte sich in Prag um verwahrloste Kinder, verband im Milíč-Haus Ansätze aus dem Christentum mit der sozialen Arbeit und begeisterte damit die Schweizer Erzieherin Olga Fierz, die ab 1927 zur engsten Mitarbeiterin wurde. Pitter betätigte sich als Laienprediger, verfasste Schriften und beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Deutschen und Tschechen. Nach Hitlers Machtergreifung fanden deutsche Emigranten und Juden im Milíč-Haus Unterkunft, wegen der Unterstützung jüdischer Familien wurde Pitter zum Gestapo-Verhör geladen, aber wieder freigelassen. Im Mai 1945 begründete er seine Schlösser-Aktion für jüdische und deutsche Kinder, nach der kommunistischen Machtübernahme wurde die auf christlichen Werten fundierte Arbeit schwieriger, zudem Pitter wegen seiner Korrespondenz mit dem westlichen Ausland der Spionage bezichtigt. Er flüchtete – mit Hilfe Olga Fierz' – nach Westdeutschland. Hier leitete er zehn Jahre in Nürnberg das so genannte Valka-Lager für Flüchtlinge aus Mittel- und Osteuropa, danach zog er in die Schweiz, wo er publizistisch tätig war und nach 1968 Flüchtlinge aus der CSSR unterstützte. Im 81. Lebensjahr starb Pitter im Februar 1976 im Schweizerischen Affoltern.

Vor allem Pitters Wirken in Deutschland von 1952 bis 1962 und dessen Einsatz für die deutsch-tschechische Versöhnung beleuchtete Franz Bauer vom Institutum Bohemicum der Ackermann-Gemeinde. Bauer zeigte Pitters Verbindungen zu den sudetendeutschen Verbänden Ackermann-Gemeinde und Johannes-Mathesius-Gesellschaft auf. Das bei der Jahrestagung der Ackermann-Gemeinde im Sommer 1955 in Haidmühle von Pater Sladek Paulus ausgesprochene eigene Schuldbekenntnis als Voraussetzung zur Vergebung und Versöhnung nahm Pitter für sein Handeln auf, mit dem Hochschulring der Ackermann-Gemeinde sowie der Johannes-Mathesius-Gesellschaft gab es in den Jahren danach noch rege Kontakte und Dokumente. Bereits Ende Mai 1945 hatte Pitter die tschechischen Übergriffe auf die Deutschen verurteilt, 1963 beurteilte er die Vertreibung, d.h. „das Prinzip der Aussiedlung großer Massen (als) unmenschlich. Ein solcher Abschub ist etwas Rücksichtsloses, Rohes, Sinnloses“. Pitter lehnte die Kollektivbestrafung ab, sein Handeln sei, so Bauer, in der national-tschechischen Tradition (Hus, Comenius, Masaryk)  wie auch im tiefen christlichen Glauben begründet. Für heute ergeben sich laut Franz Bauer aus Pitters Wirken folgende Aufgaben: Ein fruchtbares Zusammenleben der Völker in der europäischen Gemeinschaft, Überwindung der Grenzen, einvernehmliche Gestaltung der Nachbarschaft von Deutschen und Tschechen.

Auf den Briefwechsel PřemyslPitters mit dem früher an der Prager Michaelskirche tätigen Pfarrer Hugo Piesch berichtete der stellvertretende Vorsitzende der Johann-Mathesius-Gesellschaft Horst Schinzel, Monika Žárská charakterisierte anhand einer persönlichen Begegnung im November 1989 die „starke Frau an Pitters Seite – Olga Fierz“. „Sie war kein Schattenwesen, sondern eine starke Person, die einem anderen starken Menschen half“, beschrieb sie Fierz' Wesen. Vor allem die Bewertung von Geld und Besitz waren die Basis für Fierz' pädagogisches Handeln. Bei einer in Oberammergau hörte sie einen Vortrag Pitters, woraus sich die lange Zusammenarbeit entwickelte. Nach Pitters Tod verwaltete sie dessen Erbe, im Juni 1990 starb sie knapp 90-jährig in der Schweiz. Über die „Ideenwelt Pitters im Kontext der europäischen Entwicklungen seiner Zeit“ referierte Dr. Jan Štěpán von der Přemysl-Pitter- und Olga-Fierz-Stiftung in Prag. Den christlichen Humanismus, d.h. die Nächsten- sowie die Feindesliebe, sah Štěpán als Programm Pitters. Dabei machte Pitter keinen Unterschied hinsichtlich der Bedürftigkeit, Nationalität, Rasse und Religion. Laut Štěpán bleiben für heute aus Pitters Wirken diese Botschaften: Die bedingungslose Menschlichkeit, die Toleranz und der christliche Humanismus im europäischen Kontext, der Pazifismus, die Menschenrechte, der Kampf um die Wahrheit. Und nach 60 Jahre sei, so der Referent, Pitters Vision aus dem Jahr 1951 von einem Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einem guten Teil Realität.

 

Feierlich eröffnet wurde die Wanderausstellung „Europäischer Humanist Přemysl Pitter“ in Nürnberg bereits am 1. Juli. Die mittelfränkische Metropole war nicht zufällig die erste Station der Ausstellung, die sich diesem Wohltäter widmet, der sich in schwierigen Zeiten für Kinder deutscher, tschechischer und jüdischer Herkunft eingesetzt hat. Pitter wirkte dort von 1952 bis 1960, eine Stele erinnert vor der Kriche St. Ruppert an seine Nürnberger Zeit im Valka-Lager. Nächste Stationen der Ausstellung sind München (Tschechisches Zentrum, 13. Oktober bis 25. November 2011) und Frankfurt (Hediwgsforum, Januar 2012), sowie Bamberg, Stuttgart, Würzburg und Wien.

Als eine „Person, die durch festen Glauben und Mut in schwierigen Zeiten des 20. Jahrhunderts bedingungslose Humanität gezeigt“ habe, würdigte der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler MdEP bei der Eröffnung Přemysl Pitter. Dieser habe Hass und Fanatismus abgelehnt, und dafür Menschlichkeit und Humanismus gezeigt. Als erfreulich bewertete Kastler, dass auch die Tschechische Republik diese Ausstellung fördert, und damit auch die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte. Der Bundesvorsitzende verwies auf Pitters soziale und pädagogische Tätigkeiten in der Tschechoslowakei und in Deutschland, auf dessen Bezüge zur Ackermann-Gemeinde und seine schon in den 50er Jahren in Beiträgen formulierten Vorstellungen von einem grenzenlosen Europa. „Pitter ist - wie die Ackermann-Gemeinde - ein Brückenbauer“, fasste Kastler zusammen und appellierte dazu, noch vorhandene Grenzen und Hemmschwellen in den Köpfen abzubauen.

Die Ausstellung erinnere nicht nur an Přemysl Pitter, sondern auch an die Zeit Mitte des 20. Jahrhunderts mit Elend hüben wie drüben, meinte der Honorarkonsul der Tschechischen Republik, Hans-Peter Schmidt, in seinem Grußwort. Er verwies auf den Aspekt des Vergebens, das im deutsch-tschechischen Verhältnis wichtig sei. „Wir Bayern sind den Tschechen näher als alle anderen Nachbarn, eine Jahrhunderte lange Erfolgsgeschichte wurde 1939 zerstört. Fast 50 Jahre wurden die Menschen in der CSSR von der kommunistischen Ideologie geprägt, während wir uns in der Bundesrepublik frei entfalten durften und den Wohlstand genießen konnten“, stellte der Honorarkonsul fest. Zu dem in der Ausstellung gewürdigten Mann meinte er: „Přemysl Pitter hat uns den Weg nach Europa gezeigt – und sich um die Schwächsten gekümmert, die Kinder, die unsere Zukunft sind.“ Schmidt nannte einige Zahlen und Fakten aus Pitters Tätigkeit im heutigen  Nürnberger Stadtteil Langwasser von 1952 bis 1960 (Betreuung von 4000 Menschen aus 28 Nationen) und hob aktuelle europäische Erfolgsmodelle wie etwa die Euregio Egrensis hervor. „Přemysl Pitter gab uns viele Beispiele. Tragen wir dazu bei, dass aus der deutsch-tschechischen Gemeinschaft und Nachbarschaft eine Freundschaft wird. Legen wir uns dafür alle kräftig ins Zeug“, appellierte Honorarkonsul Schmidt an die Besucher der Ausstellungseröffnung.

Über die Entstehung der Ausstellung informierte Dr. Markéta Pánková von dem in Prag tätigen Pädagogischen Museum J.A. Comenius. Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt ihres Museums mit dem Institutum Bohemicum (Kultur- und Bildungswerk der Ackermann-Gemeinde). In Nürnberg erfolgt die Umsetzung in Kooperation mit dem KEB Stadtbildungswerk Nürnberg e.V. Gefördert wurde sie durch Mittel des Bayerischen Soizalministeriums und der Sudetendeutschen Stiftung. Basis war eine Ausstellung zum 110. Geburtstag Pitters, die nun zur Präsentation für die deutsche Öffentlichkeit noch erweitert wurde. „Přemysl Pitter ist ein Beispiel für die Gegenwart“, schlug Pánková die Brücke zu heute und verwies auf die vielen Auszeichnungen für Pitter unter anderem in Israel, Deutschland und der Schweiz. Auch der frühere tschechische Staatspräsident Václav Havel habe Pitter 1991 posthum mit dem Masaryk-Orden gewürdigt. „Pitters Ideen verlieren nicht an Aktualität“, fasste Pánková zusammen.

Folgenden Bereichen widmet sich die Ausstellung: Pitters erste Lebensjahre und seine „Berufung“; Přemysl Pitter als Pädagoge in der Zwischenkriegszeit; die Zeit der deutschen Okkupation nach 1939; die Zeit im Exil; Gedanken Pitters. Zum letzten Punkt verwies der Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde Matthias Dörr auf Pitters Äußerungen zur gemeinsamen Schuld und Verantwortung, zur Vertreibung der Deutschen und zur neuen Nachbarschaft von Deutschen und Tschechen.

Der Ochsenfurter Pianist Edgar Hellwig umrahmte die Ausstellungseröffnung mit Stücken aus verschiedenen Epochen und Ländern und ließ dabei zum Beispiel auch Werke deutscher und tschechischer Komponisten ineinanderfließen.

 

Markus Bauer/ag

Gruppenbild der „Pitter-Kinder" mit M. Dörr