Teltschik würdigt Kohls Leistungen zur Wiedervereinigung

Nicht alltägliche Einblicke in die Jahre und Monate vor dem Mauerfall im November 1989 und der folgenden deutschen Wiedervereinigung erhielten am vergangenen Freitag Multiplikatoren der Ackermann-Gemeinde, der Jungen Aktion und des Sozialwerks der Ackermann-Gemeinde. Auf dessen Einladung schilderte Professor Dr. h.c. Horst Teltschik, Vize-Kanzleramtschef unter Bundeskanzler Helmut Kohl, anhand seiner Erlebnisse die Entwicklungen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Seine zentrale Aussage - und auch die Meinung vieler Teilnehmer des Gesprächs: die Leistungen Helmut Kohls wurden im vergangenen Herbst anlässlich der 20. Wiederkehr des Mauerfalls zu wenig gewürdigt.

Das stellte auch Adolf Ullmann, Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde, in seiner Einführung fest. „Die entscheidenden Schritte sind in den Darstellungen der Medien nicht richtig herausgehoben worden“, blickte der Bundesvorsitzende zurück. Umso mehr könne Horst Teltschik als „Augen- und Ohrenzeuge“ entsprechende Hintergründe vermitteln. Diese Informationen seien auch für die Arbeit der Ackermann-Gemeinde, die im kirchlich-katholischen Raum politische und historische Bildungsarbeit leistet, wichtig.

Horst Teltschik, der sich nach eigenen Worten als junger Erwachsener in der Jungen Aktion der Ackermann-Gemeinde mit dem Marxismus und Leninismus auseinandergesetzt hat, datierte die ersten Fakten, die mit der späteren deutschen Einheit in Verbindung zu bringen sind, auf die Jahre 1984 und 1985. So gab es seit 1984 in Budapest regelmäßig Gespräche mit den über die Jahre wechselnden Partei- bzw. Staatsführern, wobei die Themen Demokratie, Marktwirtschaft und EU-Beitritt im Mittelpunkt standen. „Mit der Grenzöffnung im Sommer 1989 fiel hier ein erster Stein aus der Mauer“, fasste Teltschik diesen Entwicklungsstrang zusammen. Gegenüber der Sowjetunion beharrte Kohl stets auf der deutschen Wiedervereinigung. So wurden etwa 1985 bei einem Vortrag in Moskau anhand konkreter Fragen die unmenschlichen Aspekte der deutschen Teilung (Mauer, Stacheldraht usw.) oder auch die Verbannung des Menschenrechtlers Andrej Sacharow angesprochen. Laut Teltschik war die deutsche Einheit für die KPdSU-Funktionäre damals „für jetzt kein Thema“. Das habe Helmut Kohl ermutigt, das Ziel der  Wiedervereinigung nicht aufzugeben - auch wenn die öffentliche Meinung damals nicht  hinter der Wiedervereinigung stand. Ab 1988 wurden, so der frühere Kanzler-Mitarbeiter, auch mit der Volksrepublik Polen Gespräche begonnen (Frage der Deutschen in Polen) sowie mit der Tschechoslowakei und der DDR.

Als Schlüsselperson nannte Teltschik den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der nach zwei Jahren konventioneller Politik ab 1987/88 mit Glasnost und Perestroijka die entscheidenden Schritte einleitete. Dazu gehörte auch die Zusage an die Partner des Warschauer Paktes, dass sich die UdSSR nicht mehr in die Belange der einzelnen Staaten einmischen werde. Die Reformen der UdSSR griffen Polen und Ungarn auf, „die DDR war später dran“, stellte Teltschik fest, ebenso die CSSR, wo die Demonstrationen erst am 17. November 1989 begannen. Aber auch der NATO-Doppelbeschluss und das SDI-Projekt der USA hatten zu dieser Entwicklung beigetragen. Führende Sowjet-Politiker hätten, so Teltschik, eingestanden, dass für die UdSSR und den Warschauer Pakt ein Wettrüsten finanziell und technologisch unmöglich war und deshalb politisch ein anderer Kurs eingeschlagen werden musste.

Die Strategie von Bundeskanzler Helmut Kohl sei damals gewesen, die Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Paktes zu verbessern, aber auch die Reformprozesse zu unterstützen. Nach der Wiederwahl des US-Präsidenten Ronald Reagan - es herrschte ziemliche Funkstille zwischen den USA und der UdSSR - gelang auf Initiative Kohls die Wiederaufnahme der Abrüstungsgespräche und damit des Ost-West-Dialogs. Teltschik zitierte einen Satz eines Mitglieds des Zentralkomitees der KPdSU aus jenen Tagen: „Es geht auf die deutsche Einigung zu!“

Ein deutlicher Hinweis hierfür war im Juni 1989 die Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung beim Besuch Gorbatschows in Bonn. „Hier war die UdSSR erstmals bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu akzeptieren“, blickte Teltschik auf dieses Ereignis zurück, das für Kanzler Kohl bedeutete: die Vision der deutschen Einheit kann Realität werden. Am 10. Februar 1990 überließ es Gorbatschow den zwei deutschen Staaten, ob, wann und wie sie sich vereinen wollen. Ungeachtet dessen  gab es noch im Januar 1990 Planspiele der UdSSR für eine militärische Intervention in der DDR. Als Signal, dass wirklich alles friedlich verläuft, sah Teltschik die Einladung an Kohl und dessen Delegation in den Kaukasus, der Heimat Gorbatschows, für die entscheidenden Gespräche. „Da konnte es keinen Streit geben!“, so der langjährige Kohl-Mitarbeiter.

Als Leistung Kohls stellte Teltschik auch dessen Überzeugungsarbeit gegenüber Polen, Großbritannien, Italien und Frankreich dar, die aus diversen Gründen Vorbehalte bezüglich der Wiedervereinigung hatten. Als entscheidende Faktoren für die Wiedervereinigung sieht Teltschik die Integration des vereinten Deutschlands in die Europäische Union und in die NATO sowie das Vertrauensverhältnis Gorbatschows zu Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident George Bush.

Nur wenig Zeit blieb für das Gesprächsthema „Vorstellungen zur Gestaltung der deutsch-tschechischen Nachbarschaft“. Da Teltschik 1991 als Mitarbeiter Kohls ausschied, war er an den folgenden Vereinbarungen nicht mehr beteiligt. „Es gibt viele Themen, die einer Gestaltung bedürfen“, lenkte Teltschik auf die gesamteuropäische Ebene und nannte die schwindende Bedeutung der OSZE, die Erweiterung der EU und der NATO, aber auch die nach wie vor autoritären Systeme in mehreren Nachfolgestaaten der UdSSR inklusive Russland und die Instabilität der Demokratien in einigen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Teltschik plädierte für eine EU-Sonderpartnerschaft und den NATO-Russland-Rat bezüglich Russland, auch um deren Sicherheitsstreben zu berücksichtigen. Bei den anderen Staaten hält er eine Intensivierung des Dialogs, der Zusammenarbeit und Kooperation für nötig. Zwar ist für den früheren Kohl-Mitarbeiter „die europäische Integration der entscheidende Faktor für den Frieden und die Stabilität in Europa“. Aber heute gehe die Entwicklung auf globaler Ebene zur Multipolarität. „Nur die Europäische Union könnte ein Pol werden“, blickte Teltschik in die Zukunft. Er hält es für falsch zu schauen, was die anderen tun. „Wo wollen wir mit der Europäischen Union hin“, fragte er zum Abschluss seiner Ausführungen.

Bundesvorsitzender Ullmann ging in seinen Schlussworten auf die Streichung der Gelder für den Kulturreferenten der Ackermann-Gemeinde vor zehn Jahren seitens der Schröder-Regierung ein und zeigte angesichts Teltschiks Ausführungen auf, dass für die Förderung der Kultur- und Geschichtsarbeit großer Handlungsbedarf bestehe.

 

Markus Bauer

Teltschik (Mitte) erinnerte an seine Zeit in der Jungen Aktion