Vielfältige sprachliche Einflüsse im Werk Franz Kafkas

Die Themen des kulturzooms der Ackermann-Gemeinde waren bereits bisher von einer hohen Vielfalt gekennzeichnet. Gleich zwei oder drei Aspekte – Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft – beinhaltete der Beitrag von Dr. Boris Blahak bei der jüngsten Online-Veranstaltung. „Selbstdiagnose: ‚multiple Exophonie‘. Franz Kafkas sprachliche Auffälligkeiten im Kontext des Prager Multilingualismus“ lautete sein Thema, das er nicht staubtrocken, sondern fesselnd und mit hintergründigem Humor den an 51 Computern zugeschalteten Interessenten darbot.

Die Moderatorin des kulturzooms, Sandra Uhlich, stellte den Referenten, der sudetendeutsche Wurzeln hat und 20 Jahre in Tschechien gelebt und gearbeitet hat, kurz vor: Dr. phil. Boris Blahak ist Absolvent der Universität Regensburg, wo er 2012 mit einer Dissertation über Franz Kafkas Deutsch in Germanistik promoviert wurde. In den vergangenen Jahren lehrte er deutsche Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft an Hochschulen in Polen, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Deutschland. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistik und Slawistik der Westböhmischen Universität Pilsen/Plzeň, wo er den Masterstudiengang „Arealstudien: Bayernstudien“ mitinitiiert hat und die Arbeit des Zentrums für Interregionalfoschung (ZIF) koordiniert.

Blahak hatte im Vorfeld Informationen zu seinem Vortrag mitgeteilt: seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit der Ausprägung von Franz Kafkas Literatur- und Alltagssprache vor dem Hintergrund des Prager Stadtraums, in dem ein Nebeneinander verschiedener Sprachen, Deutsch, Tschechisch und Jiddisch, und Sprachvarietäten, Standardsprachen, Dialekte und Soziolekte, vorherrschten. Als deutsch-assimilierter, zweisprachiger, in einer tschechisch dominierten Gesellschaft sozialisierter Jude glaubte Kafka, nach allen Seiten sprachlich aufzufallen – eine „Exophonie“, die er auf den Prager Multilingualismus zurückführte. Hieraus ergaben sich bei ihm ständige Selbstzweifel, eine ansprechende, einer „reichsdeutschen“ Leserschaft angemessene Literatursprache vorlegen zu können. Anhand wiederkehrender Schreibfehler und Regionalismen in Kafkas Prosa-Manuskripten lässt sich überprüfen, inwieweit dieses selbst diagnostizierte sprachliche Defizit nur eingebildet war oder einen realen Hintergrund hatte, der sich nicht nur auf die sprachliche Form, sondern auch auf die Motivik seiner literarischen Werke auswirken konnte.

Einleitend warf Blahak einen Blick auf die Bedeutung des in Prag gesprochenen Deutsch zu Kafkas Zeit und ergänzte dies mit Aussagen weiterer, zum Teil später lebender Schriftsteller zum Prager Deutsch wie Max Brod, Johannes Urzidil oder Egon Erwin Kisch („jenes deutsch-tschechische Kauderwelsch, das keine Sprache, sondern eben Prager Deutsch ist“). Kafka platzierte dieses Deutsch zwischen den Aspekten Tscheche, Deutschböhme und Prager Kleinseite sowie Judentum.

Zur genaueren Identifizierung des Prager Deutsch beleuchtete der Referent in einem weiteren Schritt die sprachsoziologischen Verhältnisse in Prag um 1900: tschechischer Zuzug während der Industrialisierung, Abwanderung von der deutschen zur tschechischen Sprachgemeinschaft, höhere natürliche Wachstumsrate der tschechischen Bevölkerung. Dies hatte eine eklatante Minderheiten-Situation der Deutsch-Prager (ca. 7,7 Prozent der Stadtbevölkerung – diese zu etwa 39 Prozent jüdischer Herkunft) und eine Abgrenzung von der tschechischen Mehrheit durch soziale und wirtschaftliche Faktoren zur Folge.

Nachverfolgen lässt sich Kafkas Prager Deutsch gut in der Kritischen Kafka-Ausgabe. Im Apparat-Band sind Textvarianten oder editorische Eingriffe nachzulesen und damit Wörter und Phrasen, die auf tschechischen oder anderen Sprachmustern beruhen. Darin sind auch von Kafka selbst vorgenommene Korrekturen enthalten. Blahak führte Beispiele an: Sprachkonstruktionen, die es im Tschechischen nicht gibt (z.B. Infinitivkonjunktion, Artikel), Sonderformen in der Phraseologie oder Unterdifferenzierung als Quelle semantischer Verschiebung (z.B. Mühe/ Anstrengung, vorzeitig/voreilig) in spezifischen Wortkontexten. Einzuordnen ist Kafkas Sprache auch durch Kontrolltexte der zeitgenössischen Belletristik sowie der Tagespresse und von Wörterbüchern. Kafka selbst hob in diesem Feld oft den jüdischen Anteil besonders hervor.

Grund genug für den Referenten, auf die jüdische Sprache und das Jiddisch einzugehen. Entsprechende Relikte sind in Kafkas Werken vorhanden („vem“ statt „wem“ oder „wen“). Aber auch die zur Hochsprache abweichende Verwendung des „s“ bzw. „ß“ (stimmhaft oder stimmlos) – zum Beispiel „Existens“ statt „Existenz“ – wird vielfach in Kafkas Texten deutlich und betrifft auch andere Laute oder Buchstaben. Der Zuwachs an jüdischer Bevölkerung in Prag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trug wesentlich dazu bei. Blahak sprach von der „Existenz eines jüdisch-deutschen Milieus mit gleichartigem/ähnlichem sprachlich-sozialem Hintergrund“. Dazu kamen österreichische, wienerische und bairische Spracheinflüsse. Da Kafka seine Werke auch im reichsdeutschen Bereich publizieren wollte, korrigierte er seine Sprachfehler (zu 95 Prozent) selbst. Bei Kafka gab es, so Blahak, „große sprachliche Überlagerungen“.

Kafkas multiple Exophonie liegt darin, dass das Prager Deutsch unterschiedlich gesehen wird: Österreicher wittern eine tschechische Artikulation, Reichsdeutsche österreichische Sprachmerkmale, Kafka selbst jiddische Anklänge und Tschechen (hinsichtlich der tschechischen Sprache) einen deutschen Akzent. Zusammenfassend sprach Blahak daher von einem „Autostereotyp eines soziobiographisch und topographisch bedingten (mutter)sprachlichen Defizits“. Den Prager Multilingualismus thematisierte Kafka auch in einigen seiner Schriften, er ist bisweilen aber auch dort zu lesen und sichtbar. Mit der Rezitation der Kurztexte „Kleine Seele“, „Die Bäume“ und „Kleine Fabel“ von Franz Kafka mit dessen phonetischen Eigenheiten beendete Blahak seinen eindrucksvollen Vortrag.

Markus Bauer

Literarurhinweis: Boris Blahak: Franz Kafkas Literatursprache. Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus. Köln/Wien 2015. Böhlau Verlag. 645 Seiten

Boris Blahak Franz Kafka
Dr. Boris Blahak bei seinen Ausführungen.
kulturzoom
Ein Teil der am kulturzoom zugeschalteten Teilnehmenden.
Sandra Uhlich kulturzoom
kulturzoom-Moderatorin Sandra Uhlich bei der Einführung in den Vortrag.
Die Kulturarbeit der Ackermann-Gemeinde im Institutum Bohemicum wird gefördert durch das Bayerische Staasministerium für Familie, Arbeit und Soziales.