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Weihnachtliche Gedanken

Unser Land braucht Menschen, die aus ihrem Glauben leben. Gedanken von Prof. Dr. Albert-Peter Rethmann

 

In der letzten Zeit nehme ich nicht nur in Tschechien, wo ich lebe, sondern auch in den Kirchen anderer europäischer Länder zwei grundlegend widersprüchliche Tendenzen wahr: einerseits einen Rückzug aus der komplizierten Welt in die innerkirchliche Welt einer kuscheligen Atmosphäre, wo Christen unter sich bleiben und sich immer wieder sagen, wie gern sie sich haben; andererseits eine christliche Arroganz, die irritiert: als ob die Christen die einzigen wären, die die richtigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit haben. Beide Tendenzen zeugen davon, dass Christen noch nicht immer ihren Platz in Gesellschaft und Staat gefunden haben.
Auf diesem Hintergrund möchte ich den Blick auf eine Person lenken, der wir am 2. Weihnachtstag begegnen: den jungen Diakon Stephanus. Über ihn wird in der Apostelgeschichte in den Kapiteln 6 und 7 geschrieben. Er lebt in der Gemeinschaft der Jünger Jesu, hat ihn wahr­scheinlich selbst erlebt. Er hat sich für Jesus Christus entschieden – trotz der Schwierigkeiten, die er erwarten konnte; denn die junge Bewegung der Christen war alles andere als etabliert. In einer religiös geprägten Gesellschaft, in der eine Trennung von Staat und Religion nicht denkbar ist, ist das notwendigerweise mit Problemen verbunden.
Stephanus unterscheidet sich allerdings nicht um der Unterscheidung willen. In seiner Rede vor den Hohenpriestern (Apg 7) – sie wird oft überlesen – erinnert er die Angehörigen der etablierten Religions- und Gesellschaftsordnung an die Wurzeln des Zusammenlebens: an die Erfahrungen, die das Volk Israel im Laufe seiner Geschichte mit Gott gemacht hat. Er erinnert an die Werte, die das Volk zusammenhalten und ein menschwürdiges Leben garantieren. Und das gilt auch heute: Die Achtung der menschlichen Würde aller Menschen, auch der Schwachen, ist nur schwer zu garantieren, wenn Gott im gesellschaftlichen Bewusstsein nicht vorkommt.

Stephanus zieht sich weder zurück in die gemütliche Atmosphäre der Gemeinschaft noch hat er es nötig, mit erhobenem Zeigefinger zu moralisieren. Stephanus zeigt, dass es einen dritten Weg gibt: den Weg des Menschen, der seine Wurzeln in Gott hat und der deshalb mit seinem Handeln und Reden die nötigen Fragen so stellt, dass die Zeitgenossen aufhorchen. Auch unsere Gesellschaft heute benötigt die Werte, die die Kräfte der Solidarität stärken und die zerstörerischen Kräfte von Hass, Rassismus, Vorurteilen und Egoismus unterlaufen. Bei Stephanus ist bei aller engagierter Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen kein Hass zu spüren, eher eine große Liebe, auch zu den Menschen, mit denen er streitet. Sein letztes Gebet gilt ihnen.
Für mich ergibt sich daraus: Gläubige Menschen können selbstbewusst in ihrer Zeit leben. Sie haben eine Erfahrung mit dem Gott Jesu Christi gemacht oder spüren wenigstens seine Liebe. Und sie haben einen Standpunkt, wenn es um die wichtigen Fragen des Lebens geht. Christen stehen auf der Seite des Lebens: am Anfang, wo es um Kinder und ihre Rechte geht, und am Ende, wenn ein Mensch alt oder schwerkrank ist – und auch mittendrin, wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft ausgegrenzt werden. Christen unterscheiden sich, wenn eine Gesellschaft droht, ihre Armen aus dem Blick zu verlieren: Obdachlose, Zuwanderer, Arbeitslose und Familien, die vorne und hinten mit ihrem Geld nicht mehr auskommen.
Unser Land braucht Menschen, die aus ihrem Glauben leben. Selbstbewusst und zugleich in dem bescheidenen Bewusstsein der eigenen Schwäche. Vielleicht wie Stephanus.

 
Albert-Peter Rethmann, Diözesanpriester aus Münster, ist Prodekan der Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag und lehrt Theologische Ethik. Er gehört dem Bundesvorstand der Ackermann-Gemeinde an.

„Weihnachtsstern“ von Dietlinde Assmuss, Düsseldorf