„Wer sich nicht erinnert hat keine Zukunft“

Bei einer Veranstaltungsreihe zur Kinderoper Brundibár und Přemysl Pitter, welche von der Ackermann-Gemeinde Würzburg mitgetragen wurde, standen sie im Mittelpunkt: Greta Klingsberg, Yehuda Bacon, Pavel Kohn und Hans Wunder. Nicht mehr lange können uns diese Menschen, die die dunklen Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erleben mussten, von ihrem Schicksal und ihrer Kraft mit diesem umzugehen erzählen. Die Schirmherrschaft für dieses Projekt hatten der tschechische Botschafter in Berlin Dr. Rudolf Jindrák und der israelische Generalkonsul in München Tibor Shalev Schlosser übernommen.

Den Auftakt der Veranstaltungsreihe bildete eine Soiree im Mainfrankentheater Würzburg. Der Intendat Hermann Schneider und der Dramaturg gaben dabei Einblicke in die Kinderoper Brundibár. Diese erscheint wie ein poetisches Märchen und handelt vom Sieg der Kinder über eine bedrohliche Macht. Brundibár ist aber ebenso ein berührendes Dokument des kulturellen Widerstands. Über fünfzig Mal wurde es im jüdischen Ghetto Theresienstadt aufgeführt und schenkte den Kindern dort Freude und Hoffnung. Die Meisten von ihnen wurden dennoch nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Die Sängerin Greta Klingsberg, die in den Theresienstädtern Aufführungen als Mädchen die Aninka spielte, zählt zu den Überlebenden. Sie war eigens nach Würzburg angereist. Auch wenn es ein Stück ist, welches nur von Kindern gespielt wird, sei es auch musikalisch wertvoll, so Klingsberg. „Es ist eine schöne, leichte harmonische Musik, zwischen Strawinsky und Weill.“ Als „Stunden des normalen kindlichen Lebens“ hat die heute 83-Jährige die Zeit bei den Proben und auf der Bühne in Theresienstadt in Erinnerung: „Plötzlich gibt es einen Hund und eine Katze und einen Spatz. Es gibt eine Schule, es gibt Milch, es gibt Eis – alles Sachen, die wir kaum mehr kannten“. Gemeinsam mit der Kinderoper erfolgt die Uraufführung eines neuen Chorwerkes Wilfried Hillers. Das Theresienstädter Tagebuch beruht auf Versen von Alexander Jansen nach Dokumenten der Kinder von Theresienstadt.

Klingsberg fand nach ihrer Befreiung aus Auschwitz zunächst in einem Kinderheim von Přemysl Pitter am Rande von Prag Aufnahme. Das verbindet sie mit Hans Wunder aus Berlin. Zu Kriegsende war er in Nordböhmen und erlebte als deutsches Kind die Internierungslager in Prag-Strahov und Theresienstadt. In seiner „Aktion Schlösser“ nahm Pitter neben jüdischen Kindern aus den Konzentrationslagern auch deutsche Kinder auf. So sehr war er von den Zuständen in den Internierungslagern für Deutsche erschüttert, weiß Blanka Sedláčková aus Prag zu berichten. Sie half als junges tschechisches Mädchen in einen der vier Kinderheime mit. Auch Hans Wunder schilderte in einer Gesprächsrunde mit Adolf Ullmann, Kulturbeauftragter der Ackermann-Gemeinde, seine Begegnung mit Pitter. Das Leben und Wirken Pitters zeigt eine Ausstellung des Institutum Bohemicum der Ackermann-Gemeinde und des Nationalen Pädagogischen Museums in Prag, die im Rahmen der Soiree am Faschingssonntag eröffnet wurde. In die Ausstellung führte der Bundesgeschäftsführer der Ackermann-Gemeinde, Matthias Dörr, ein. Pitter sei für ihn eine faszinierende Persönlichkeit, „da er die dunkelsten Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte erleben musste. Aber gerade in diesen dunklen Zeiten ein Licht der Nächstenliebe und der Hoffnung in die Menschen war.“ Für das Nationale Pädagogische Museum konnte er die stellvertretende Direktorin Marie Chrobáková begrüßen. Außerdem präsentierte Dörr die stark erweiterte Neuauflage des gleichnamigen Begleitbandes zur Ausstellung. Ergänzt wird die Ausstellung im Mainfrankentheater durch Zeichnungen des israelischen Künstlers Yehuda Bacon. Auch er war ein jüdisches „Pitter-Kind“. Weitere Werke des 1929 in Mährisch Ostrau geborenen Künstlers sind im Rahmen der Projektwoche in einer Ausstellung unter dem Titel „Das Schöpferische ist der höchste Segen, der uns werden kann“ im Museum am Dom zu sehen.

Die Premiere von Brundibár und die Uraufführung der Theresienstädter Tagebücher standen am Aschermittwoch ebenfalls im Museum am Dom auf dem Programm. Die einstündige Vorstellung vereinte zwei Werke von gänzlich unterschiedlichem Charakter: auf der einen Seite das bedrückende „Theresienstädter Tagebuch“, auf der anderen die heitere, verspielte Kinderoper „Brundibár“. Die jungen Sänger der Würzburger Domsingknaben und der Mädchenkantorei am Würzburger Dom sowie die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Würzburg unter der Leitung von Domkantor Alexander Rüth meisterten eindrucksvoll die gegensätzlichen Facetten. „Sie haben wunderbar gesungen“, lobte Greta Klingsberg nach der Aufführung. Das Publikum dankte mit begeistertem, minutenlangem Applaus.

Ein einzelner Gleisstrang trennte die Bühne mit dem ganz in schwarz gekleideten Chor von den Zuschauern. „Mein Land ist nicht auf der Erde, mein Land ist im Herzen und doch so weit“, stimmen die Kinder und Jugendlichen voller Sehnsucht an. Sehnsucht, Verzweiflung, nur ab und an ein Funken Hoffnung durchziehen die Texte des „Theresienstädter Tagebuchs“, von Alexander Jansen unter anderem auf der Grundlage von Tagebucheinträgen von Kindern aus Theresienstadt geschrieben. Sie beschreiben den harten Lageralltag ohne Betten und in stetiger Angst vor den Nazis, sie erzählen von der Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum gewesen sein möge. Wenn doch einmal ein Hauch von Kinderglück durchscheint, wie bei „Mama, komm, lass uns spielen, küssen, sprechen, singen auch!“, ist es Augenblicke später schon wieder verflogen. Nach und nach verschwinden Vater, Mutter, schließlich nimmt der Zug den Bruder mit. Die letzten Takte enden in einem schrillen Pfeifton, der wie ein Schrei klingt. Lange Sekunden herrscht absolute Stille. Selbst der Applaus klingt ernst.

Heiter und verspielt ist dagegen der Charakter der Kinderoper „Brundibár“. Auch wenn die Ausgangslage zunächst hoffnungslos erscheint: Die Geschwister Aninka, gesungen von Jacqueline Wiedemer, und Pepíček, gespielt von Jaromir Müller, wollen mit Singen Geld verdienen, um für die kranke Mutter Milch zu kaufen. Dabei werden sie von dem bösen Drehorgelmann Brundibár, den Roberto Lepore singt, vertrieben. Natürlich geht die Geschichte gut aus: Ein Spatz, eine Katze und ein Hund haben alles beobachtet und mobilisieren ganz viele Kinder, um den beiden zu helfen und Brundibár zu vertreiben. „Nehmt euch bei der Hand und knüpft das Freundschaftsband“, lautet eine der letzten Zeilen. Zum langen, begeisterten Schlussapplaus holen die Darsteller Greta Klingsberg auf die Bühne. Sie sang 1943/44 im Ghetto Theresienstadt über 50 Mal die weibliche Hauptrolle Aninka. Nun ist sie voll des Lobs über die Leistung der jungen Sänger. „Sie haben wunderbar gesungen“, strahlt sie. „Auch das moderne Stück haben sie unglaublich sauber und schön gesungen. Es war eine wundervolle Arbeit.“ Wilfried Hiller, Komponist des „Theresienstädter Tagebuchs“, fasst seine Gefühle in einem Satz zusammen. „Ich bin sehr froh.“

Der heitere Charakter von „Brundibár“ darf nicht über den ernsten Hintergrund der Kinderoper hinwegtäuschen. An diesen erinnerte Kunstreferent Domkapitular Dr. Jürgen Lenssen in seiner Begrüßung. Denn die Aufführungen von „Brundibár“ waren dazu gedacht, die Beobachter des Roten Kreuzes über den wahren Charakter der Konzentrationslager hinwegzutäuschen. „Sie sollten eine heile Welt vorstellen. Aber viele der Kinder haben diese Oper nicht überlebt – der Zug ging nach Auschwitz.“ So war es nur folgerichtig, dass die Gleise auch bei „Brundibár“ immer im Blick waren. Einige Überlebende der Shoa konnte Lenssen an diesem Nachmittag begrüßen. Neben Greta Klingsberg waren dies die Sängerin Esther Bejarano, Mitglied des Mädchenorchesters im Konzentrationslager Auschwitz, die ungarische Autorin Eva Fahidi-Pusztai und der Journalist Pavel Kohn, „Pitter-Kind“ und Pitter-Biograph. „Alle Kräfte, die die Freiheit stehlen wollen, haben letztlich verloren“, sagte Lenssen und betonte: „Nur in der Gemeinschaft, im Vertrauen zueinander, sind wir stark. Es gilt, zu einem respektvollen Umgang miteinander in allen Lebensbereichen zu finden.“

Unter den Ehrengästen bei der Premiere befanden sich Bischof Dr. Friedhelm Hofmann, die Schirmherren der Veranstaltungen, Tibor Shalev Schlosser, Generalkonsul des Staates Israel, und Dr. Rudolf Jindrák, Botschafter der Republik Tschechien, sowie Oberbürgermeister Georg Rosenthal. Bereits am Vormittag hatten sich Klingsberg, Bejarano, Fahidi-Pusztai, Kohn sowie Generalkonsul Schlosser und Botschafter Jindrák im Rahmen eines feierlichen Empfangs im historischen Wenzelsaal in das Goldene Buch der Stadt Würzburg eingetragen. „Wenn man sich der Geschichte stellt, muss man sich erinnern. Wer sich nicht erinnert, hat keine Zukunft“, sagte der Oberbürgermeister Georg Rosenthal zu den zahlreich erschienenen Gästen.

Auch mit weiteren Begleitveranstaltungen rund um Přemysl Pitter und Brundibár wurde die deutsch-tschechische Geschichte aufgegriffen. Im großen Sitzungssaal des Landratsamtes Würzburg stand die „Pädagogik der Versöhnung in totalitärer Zeit“ von Přemysl Pitter und seiner Mitarbeiterin Olga Fierz im Mittelpunkt. Zu der Veranstaltung konnten der Diözesanvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Würzburg auch den Hausherrn, den Landrat Eberhard Nuß, begrüßen. Hierzu referierten der Würzburger Pädagogikprofessor Dr. Winfreid Böhm und die tschechisch-deutsche Schriftstellerin Dr. Alena Wagnerová aus Saarbrücken. Pitter war kein Lehrer oder Erzieher von Beruf. Er selbst hatte sich als einen europäischen Humanisten bezeichnet, dessen soziales und erzieherisches Wirken von einem grundsätzlichen Vertrauen in das Gute im Menschen getragen war. So galt seine Liebe und Sorge vor allem den Kindern, die durch Hass und Krieg um ihre Kindheit betrogen wurden, jüdischen ebenso wie deutschen und tschechischen. Dabei war ihm die Schweizerin Olga Fierz die engste Mitarbeiterin und Vertraute. Sie fand in der Zusammenarbeit mit dem charismatischen Menschen Pitter ihre Lebensaufgabe in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

„Es gibt keine Alternative zum Guten“. Mit dieser Botschaft war das Gespräch mit Zeitzeugen im jüdischen Zentrum „Shalom Europa“ überschrieben. Neben Greta Klingsberg kamdabei auch der in Niederbayern lebende tschechische Holocaust-Überlebende Pavel zu Wort. Sie haben das Unfassbare durchlitten und überlebt. In den Konzentrationslagern waren sie einem der perfidesten Angriffe auf die Menschlichkeit in der Geschichte der Zivilisation ausgesetzt. Sie berichteten, wie es ihnen dennoch gelang, diesen Angriff als Mensch zu überstehen und ihre Menschlichkeit zu bewahren. Und wie sie die Kraft zum Leben, Überleben und Weiterleben nach diesen Erfahrungen fanden. Schülerprojekte am Wirsberg- und am Röngtengymnasium rundeten die Veranstaltungsreihe in Würzburg ab.

Insgesamt kommen die Kinderoper Brundibár sowie das Theresienstädter Tagebuch bis zum 25. Februar im Würzburger Museum am Dom achtmal zur Aufführung. Noch vor der Premiere waren diese Vorstellungen komplett ausverkauft. Yehudas Bacons Werke können im Museum am Dom noch bis zum 3. März besichtigt werden. Die Ausstellung „Europäischer Humanist. Přemysl Pitter“ ist ebenfalls noch bis zum 3. März im oberen Foyer des Mainfrankentheaters Würzburg zu sehen. Einer der kommenden Stationen der Pitter-Ausstellung wird auch der Sudetendeutsche Tag in Augsburg sein. Dort wird auch der jüngst erschienene Begleitband „Europäischer Humanist. Přemysl Pitter“ (Ackermann-Gemeinde, 104 S., München 2013, 5,- €, ISBN 9783-3-924019-12-9) erhältlich sein.

ag/pow

 

Bilder:

Leitet Herunterladen der Datei einBild 1: Adolf Ullmann bei der Soiree im Foyer des Mainfrankentheaters im Gespräch über Přemysl Pitter mit den Zeitzeugen Blanka Sedláčková (l.) und Hans Wunder (r.).

Leitet Herunterladen der Datei einBild 2: Die Zeitzeugen und die Schirmherren trugen sich beim Empfang im Wenzelsaal in das Goldene Buch der Stadt Würzburg ein (v.l.n.r.): die ungarische Autorin Eva Fahidi-Pusztai, Esther Bejarano, Mitglied des Mädchenorchesters im Konzentrationslager Auschwitz, Würzburgs Oberbürgermeister Georg Rosenthal, das „Pitter-Kind“ Pavel Kohn, der tschechische Botschafter Dr. Rudolf Jindrák, Greta Klingsberg und Tibor Shalev Schlosser, Generalkonsul des Staates Israel.

Leitet Herunterladen der Datei einBild 3: Besuch der Schrimherren in der Pitter-Ausstellung am Aschermittwoch im Foyer des Mainfrankentheaters (v.r.n.l.): Israelischer Generalkonsul Tibor Shalev Schlosser, Intendant Hermann Schneider (Mainfrankentheater), tschechischer Botschafter Dr. Rudolf Jindrák, Pitter-Zeitzeugin Blanka Sedláčková (Prag), AG-Bundesgeschäftsführer Matthias Dörr, AG-Diözesanvorsitzender Hans-Peter Dörr (Würzburg)

 

Zu der Zugabe nach der Premiere von Brundibár<br />holten die Sängerinnen und Sänger Greta Klingsberg<br />(mitte) mit auf die Bühne. Sie spielte über 50mal in<br />Theresienstadt die Rolle der Aninka.<br />Rechts neben ihr die Aninka-Darstellerin Jackie<br />Wiedemer aus der Mädchenkantorei der Dommusik.