Zweites Wunder in Philippsdorf

Die katholische Organisation Ackermann-Gemeinde wurde genau vor siebzig Jahren in München gegründet. Martin Kastler, ihr Bundesvorsitzender und ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments für die CSU, hat an dieses Ereignisses in Philippsdorf/Filipov errinert.

Stammen Ihre Vorfahren aus dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik?

Ja, mütterlicherseits – die Familie meiner Mutter stammt aus Weipert/Vejprty im Erzgebirge. Der andere Teil der Familie stammt aus Franken und Elsass-Lothringen. Ich bin also aus einer zweisprachigen Ehe, man könnte sagen, aus einer europäischen Familie.

 

Wird in ihrer Familie eine Geschichte über die Vertreibung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tradiert?

Die Eltern meines Opas und seine Schwester wurden vertrieben. Meine Oma war Tschechin. Der Opa kehrte nach dem Weltkrieg nach Hause zurück und dann musste er zehn Jahre in Bergwerken in Jáchymov arbeiten. Er musste ähnlich wie manche anderen Sudetendeutschen, die nicht politisch aktiv waren, eine schwere und gefährliche Arbeit ausüben – sie wurden jahrelang zu Zwangsarbeit eingesetzt. Es war eine Zeit, die meinen Opa sehr beeinflusste, er sprach nicht gern über sie. Ursprünglich war er Handwerker, seine Familie hatte eine Metzgerei, und ein Gasthaus das später vollständig zerstört wurde. Ich war einmal dort, es ist jedoch nichts übrig geblieben.

 

Wie lange blieb Ihr Großvater in Tschechien?

Für eine lange Zeit. Seine zwei Töchter, eine von ihnen war meine Mutter, wuchsen zweisprachig auf. Als es die Möglichkeit der Aussiedlung gab, also im Jahre 1967, ging die ganze Familie nach Bayern.

 

Wie oft kommt es vor, dass die Mitglieder der Ackermann-Gemeinde Vorfahren aus Tschechien haben?

Nicht alle haben hier Ihre Wurzeln, aber die meisten schon. Unsere Organisation verbindet Menschen, die die Vertreibung erlebt haben. Wir haben unter uns jedoch auch junge Menschen, die sich allgemein für deutsch-tschechische Beziehungen interessieren.

 

Sind Sie hier zu Hause?

Ja, ich fühle mich hier wie zu Hause. Ich fühle mich zu Hause sowohl in Franken (ich bin in Nürnberg geboren, wir wohnen in Schwabach), als auch hier in Prag. Ich bin ein permanenter Grenzgänger.

 

Fühlen Sie sich von den Tschechen als derjenige aufgenommen, der Anspruch darauf hat, dieses Land als seine Heimat zu betrachten?

Ich fahre seit zwanzig Jahren hierher, ich habe hier studiert, weil ich unsere gemeinsame Geschichte auch von der anderen Seite kennen lernen wollte. Als Student wohnte ich bei den Prämonstratensern in Strahov, ich habe sogar in Prag geheiratet und fahre hierher mit meiner Frau. Ich kann mich an keine negative Erfahrung erinnern. Ja, für andere Studenten war ich der Bayer, alle wussten, woher ich stamme, es wurde nie negativ bewertet.

 

Treffen Sie manchmal seitens der Sudetendeutschen auf die folgende Ansicht über Tschechen: Zuerst haben sie uns vertrieben oder verhaftet, dann haben sie auf uns vierzig Jahre lang mit Waffen gezielt und jetzt sind sie nicht willens, uns mit der Migrationswelle zu helfen?

Während meines Prager Studiums arbeitete ich auch für Václav Havel, ich habe auf meinem Schreibtisch ein Foto mit seiner Widmung. Damals verlief eine intensive Diskussion über die Deutsch-tschechische Erklärung. Ich hatte eine Stage in Havels Präsidentenkanzlei, beantwortete viele Fragen, die die Erklärung und deutsch-tschechische Beziehungen betrafen – es waren Hunderte und Tausende Fragen. In jener Zeit begriff ich, wie Tschechen ihre Geschichte verstehen, wie sie Europa sehen möchten, welche Stellung sie in Europa haben möchten. Ich kann von mir vielleicht sagen, dass ich dank dieser Erfahrung verstehe, wie sie denken. Was die Migrationswelle angeht, die Menschen sprechen von sich selbst, von ihren Problemen, sie sprechen jedoch nicht miteinander – darin sehe ich ein großes Problem. Es gibt einerseits den Blick, wie er in den Medien präsentiert wird: über Politiker, über Angela Merkel, und über die Haltung der Deutschen  zur Migrationswelle. Andererseits gibt es den Blick, wie wir Deutsche Tschechien, Ungarn und andere Länder, die uns mit der Migrationspolitik nicht helfen möchten, wahrnehmen. Dadurch wird dieser Stereotyp nur gestärkt. Wir sollten mehr Initiativen haben, um miteinander zu sprechen. Die Politiker sollten dazu beitragen, dass keine Barrieren zwischen Menschen und Nationen entstehen und dass man miteinander mehr kommuniziert.

 

Halten Deutsche die Tschechische Republik, nicht nur wegen ihrer gegenwärtigen Politik, sondern auch wegen ihrer Vergangenheit, für ein problematisches Element?

Ich habe niemals von einem Politiker gehört, dass er das, wie sich die Tschechen in der Zeit der Vertreibung verhalten haben, mit der heutigen Migrationspolitik vergleichen würde. Die Zeit nach dem Krieg kann man nicht mit der gegenwärtigen Situation vergleichen. Die Gründe für die damalige Migration von Menschen waren der Krieg und die Nachkriegsstimmung, jetzt ist der Grund die Not. Damals gab es die Tschechoslowakei und Deutschland, nun gibt es Europa als Ganzes, wohin die Menschen aus anderen Kontinenten kommen möchten.

Wir sollten uns bemühen, alle Stereotypen abzubauen, und zwar auch diejenigen über deutsch-tschechische Beziehungen. Leider bringen oft Journalisten vereinfachende Informationen, womit sie zu Vorurteilen beitragen und Stereotype bekräftigen. Die meisten Menschen in Deutschland kennen westliche Länder und einige Teile Asiens, Mitteleuropa kennt man jedoch aus eigener Erfahrung nur wenig oder gar nicht. Dadurch ist die Rolle der Medien wesentlicher.

 

Ändern sich in den letzten Jahren die Schwerpunkte der Tätigkeit der Ackermann-Gemeinde?

Gerade solche Organisationen wie die unsrige, die sich mit grenzüberschreitenden Beziehungen beschäftigen, sollen als Brückenbauer dienen, sie sollen die Geschichte sowie die gegenwärtige Situation des anderen Landes erklären. Für die Ackermann-Gemeinde ist das andere Land die Tschechische Republik. Wir sind keine Organisation, die nur die Geschichte untersucht, wir möchten im heutigen Europa aktiv sein, was unsere Arbeit natürlich beeinflusst. Deshalb freue ich mich darüber, dass es in unserer Organisation viele junge Menschen gibt, die keine familiäre Verbindung in Tschechien haben, die sich jedoch als Europäer in der nachbarschaftlichen und regionalen Arbeit engagieren möchten. Wichtig ist für ihre Aktivität der christliche Glauben.

 

Unsere Leser kennen die Tätigkeit des „Sdružení Ackermann-Gemeinde“ in Tschechien: Vorträge, Messen, Publikationstätigkeit… Womit sich die Mutterorganisation in Deutschland beschäftigt, dass wissen die Leser vielleicht nicht genau. Können Sie uns darüber etwas sagen?

Gerade für das „Katolický týdeník“ ist es wichtig zu sagen, dass sich die Ackermann-Gemeinde aktiv in der schweren Zeit des Kommunismus an der Zusammenarbeit beteiligte, meine Vorgänger hielten während der ganzen kommunistischen Zeit in der Tschechoslowakei Kontakte aufrecht. Sie halfen vor allem der Untergrundkirche, sie unterstützten die Theologiestudenten, sie schmuggelten Literatur, sie feierten gemeinsam heimlich Gottesdienste… Die Kontakte wurden nie abgebrochen.

In der katholischen Kirche auf der deutschen Seite haben wir einen festen Platz. Wir sind keine politische Organisation, von Anfang an sind wir eine Plattform, wo sich Gläubige zu Gottesdiensten und Gesprächen treffen. Wir geben auch Bücher heraus und unsere letzte Publikation handelt über den Wallfahrtsort Altbunzlau/Stará Boleslav. Für die Geschichte unserer Organisation sind auch Pilgerwege und Wallfahrten wichtig. In München haben wir ein Archiv, wo es eine Menge Unterlagen über unsere Hilfe der Kirche in der Tschechischen Republik sowie dem Schulwesen gibt – viele Ackermänner waren nämlich Lehrer. In unserem Archiv gibt es über 1200 Priester, die die Ackermann-Gemeinde in der Zeit des Kommunismus durch Literatur und humanitäre Hilfe unterstützte. Zum Beispiel Herr Kardinal Vlk hat bei uns eine ganze Mappe.

 

Die Anfänge der Tätigkeit der Ackermann-Gemeinde beziehen sich auf Januar 1946. Die Antwort auf die Vertreibung aus der Heimat war seitens Ihrer Begründer nicht nur Verzeihung, sondern auch Hilfsbereitschaft.

Am Anfang stand das Gebet unseres ersten geistlichen Beirats P. Paulus Sládek. Sein Gebet beschreibt treu die Stimmung unmittelbar nach der Vertreibung. Dabei ist dort verankert, dass wir gläubig sind, dass wir unsere eigene Schuld sehen sollten und dass wir für Versöhnung beten sollten. Ich kenne viele Geschichten von Menschen, unseren Mitgliedern, die in den Orten, aus denen sie vertrieben wurden, eine Kirche oder ein Pfarrhaus renovierten. 

Ich staune darüber, was unsere Vorgänger alles taten, obwohl sie ihre Heimat verloren, die Vertreibung erlebten, nach Deutschland kamen, wo sie nicht willkommen geheißen wurden. Sie wurden oft als „Rucksack-Deutsche“ beschimpft. Die Flüchtlinge hatten nach der Vertreibung kein einfaches Leben. Als sie jedoch sahen, wie schlecht es der Kirche in Tschechien geht, wollten sie ihr helfen – auch den Menschen, die dort geblieben sind. Sie setzten sich zum Ziel, anderen in Not zu helfen. Sie selbst waren in Not, sie wusste jedoch, dass es in Tschechien noch schlimmer ist.

 

Die Integration der Sudetendeutschen im neuen Land war bestimmt nicht einfach.

Meine Vorgänger als Vorsitzende der Ackermann-Gemeinde haben ihre Heimat nicht vergessen und sie haben sich zugleich vollständig in Deutschland integriert. Unser erster Vorsitzender, Hans Schütz, war ein hochrangiger CSU-Politiker. Er sagte einen Satz, der für die weitere Entwicklung unserer Organisation wichtig war: Wir wollen ein Baustein sein, kein Sprengstoff.

In Deutschland war die Aufnahme der Sudetendeutschen nicht selbstverständlich – auch Politiker unterstützen diese Bevölkerungsgruppe lange nicht. Erst nach vierzig oder fünfzig Jahren konnte man sehen, dass die Integration schließlich gelang und die Mehrheit der Gesellschaft schätzt die Sudetendeutschen. Heute sind die Deutschen stolz auf diese Integrationsleistung. Wir können ein Vorbild für andere darstellen.

 

Wie hängt die Entstehung der Ackermann-Gemeinde vor siebzig Jahren mit Philippsdorf/Filipov zusammen, wo sie heuer am 13. Januar – am Jahrestag des hiesigen Wunders – ihrer Gründung gedacht haben?

Die Marienerscheinung in Philippsdorf/Filipov war für die vertriebenen Deutschen eine Herausforderung,  damit auch sie diesen Schmerz annehmen und diesen im Gottvertrauen überwinden konnten. Der Satz Marias an das kranke Mädchen aus Philippsdorf/Filipov: „Mein Kind, ab jetzt heilt es“, war ein Vorbild für sie. Ich weiß nicht, was am 13. Januar 1946 in Philippsdorf/Filipov los war, in München jedoch, in dem katholischen Studentenwohnheim, trafen sich junge vertriebene Deutsche, die der Wallfahrt nach Philippsdorf/Filipov gedachten, wohin sie früher gegangen waren, und sie waren sich einig: Wir möchten keine Höfe und kein Besitz zurück, wir wollen keine Rache. Wir wollen weiter gehen. So etwas schafft nur ein Gläubiger.

 

Das ist bewundernswert – es waren wahre Christen.

Für uns ist es das zweite Wunder in Philippsdorf/Filipov. Für uns gibt es also nicht nur das Wunder vor 150 Jahren, als hier Magdalena Kade geheilt wurde, sondern es gab noch ein anderes Wunder vor 70 Jahren, dank dem das Werk begründet wurde, das auf der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit, auf Vergebung und Versöhnung begründet ist.

 

Der Name Ackermann-Gemeinde stammt von der mittelalterlichen Schrift Der Ackermann aus Böhmen. Es handelt sich um ein Gespräch des Ackermanns mit dem Tod, das Thema des Textes ist Schmerz. Diese Gedanken mussten bei ihren Begründern sehr stark auf Resonanz treffen.

Der Grund, warum sie dieses Werk als Grundlage unseres Namens ausgewählt haben, ist heutzutage vielleicht schwer nachvollziehbar. In der Nachkriegszeit, in der jeder einen Schmerz und einen Verlust einer nahen Person erlebt hat, war die Wahl des Namens offensichtlich. Das Gespräch des Ackermanns mit Gott in dem betreffenden Text ist nicht ruhig, es ist eine Auseinandersetzung, fast ein Streit zwischen den beiden, der Ackermann hält es für eine Ungerechtigkeit, dass er seine Frau verloren hat… Die Notwendigkeit, sich mit dem schweren Schicksal zu versöhnen, fand bei unseren Gründern Anklang.

 

Die Ackermann-Gemeinde wird bestimmt ihren Namen nicht ändern, trotzdem möchte ich Ihnen eine spekulative Frage  stellen: Wie würden Sie Ihre Organisation heute nennen?

Den Namen werden wir nicht ändern, wir brauchen es nicht. Wir benutzen nämlich den Zusatz, dass wir Brückenbauer sind, wir sind Christen in Europa, die sich um eine gute Nachbarschaft zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken bemühen. Das drückt unsere Arbeit aus und zeigt es den Menschen von heute.

 

Quelle: www.katyd.cz
Autor: Aleš Palán
Übersetzung: M. Kastler, M. Balcarova