Skip to main content Skip to page footer

Brünner Symposium 2018

Europa zwischen Integration und Desintegration 1918/2018. Wohin steuert Ostmitteleuropa?

Eröffnung

Die liberalen Demokratien stärken, zivilgesellschaftliches Engagement fördern

Gut 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor allem aus Deutschland, Tschechien und Österreich, vereinzelt auch aus Polen und Ungarn, zog auch heuer wieder am Palmsonntag-Wochenende das inzwischen 27. Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ in die Metropole Mährens. Bei Vorträgen und Podiumsdiskussionen ging es um das Thema „Europa zwischen Integration und Desintegration 1918/2018. Wohin steuert Ostmitteleuropa?“ Veranstalter waren, wie gewohnt, die Ackermann-Gemeinde und die Bernard-Bolzano-Gesellschaft, die Schirmherrschaft hatten die Stadt Brünn und der Kreis Südmähren übernommen.

Die Eröffnung des Symposiums fand im Historischen Sitzungssaal des Neuen Rathauses statt. Der Bundesvorsitzende der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler wies in seiner Begrüßung auf die Bedeutung des Symposiums hin, aber auch auf die „spannenden Zeiten in Europa“, konkret in Mitteleuropa. Dies betreffe aber nicht nur die offizielle Politik. Kastler sprach von einem „steigenden Interesse der Zivilgesellschaft in Tschechien“, ebenso von „irritierenden Diskussionen in einzelnen Staaten über den Wert der Europäischen Union“ und von Erinnerungen an die Demonstrationen im Jahr 1989. „Es kann sich durch solch eine aktive Zivilgesellschaft etwas zum Positiven verändern. Dazu gehören auch wir mit unserem Symposium“, schloss Kastler seine Eröffnungsworte.

Für die Bernard-Bolzano-Gesellschaft hieß Ondřej Matějka die Teilnehmer willkommen. Er blickte zurück auf das Ende des Ersten Weltkrieges („der bis dahin schrecklichste Krieg“) und die Hoffnungen danach, die sich angesichts von Not, Elend, Chaos und schließlich Diktaturen nicht erfüllt hätten. In der Rückschau auf die letzten fünf Jahre sprach er für die Visegrád-Staaten von „vielen nicht verheilten Wunden und fehlendem Selbstbewusstsein“. Sie würden sich in der Europäischen Union nicht wahr- und ernstgenommen fühlen. Matějka sprach gar von einer „Desintegration auch in den einzelnen Gesellschaften“. Die Folge des Vertrauensverlustes in den Staat sei, dass sich die Menschen an die Nation klammern.

Der Oberbürgermeister von Brünn Petr Vokřál stellte in seinem Grußwort die Frage, ob in Europa noch ein Konsens über die verbindenden Werte besteht. Er sprach die möglichen Reformen der EU an, ebenso Überlegungen im Falle eines Austritts Tschechiens aus der EU. In diesem Zusammenhang erinnerte er an Tomáš Garrigue Masaryk, der immer von einem europäischen und tschechischen Selbstbewusstsein gesprochen habe.

Im Namen des tschechischen Außenministers übermittelte Botschafter a.D. Dr. Tomáš Kafka Grüße. Das Brünner Symposium sei „ein Stützpunkt, auf den die Zivilgesellschaft in Mitteleuropa bauen kann“, so Kafka. Er deutete aber auch an, dass es Alternativen zur liberalen Demokratie gebe – autoritäre Regime, die eine „Politik der Ewigkeit“ vertreten. Daher ist es für den früheren Botschafter eine zentrale Aufgabe, „die Attraktivität der liberalen Demokratie zu stärken“. Ein gutes Gespür für aktuelle Fragen bescheinigte Christiana Markert, Gesandte an der Deutschen Botschaft in Prag, den Veranstaltern. Sie verwies auf die Ergebnisse einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung, wonach sich immer mehr Staaten von den demokratischen Grundlinien entfernen, was zu Spaltungen führt. In Deutschland seien solche Spannungen durch die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ans Tageslicht getreten. Auch die Europäische Union befinde sich scheinbar in einem historischen Moment. „Die Fliehkräfte sind größer als das, was uns zusammenhält.“ Daher seien neue Lösungen notwendig. Die fast gleichzeitige Existenz von Integration und Desintegration im Jahr 1918 – und auch später bei der EU und in der NATO – sah Martin Gärtner, Gesandter an der österreichischen Botschaft in Prag, als Emanzipation. Den Begriff „Ostmitteleuropa“ wertete er nicht nur geografisch, sondern auch kulturhistorisch und politisch. Er wünschte eine genaue Verortung, um das „wohin“ bestimmen zu können.

Den Einführungsvortrag zum Thema „Europa 1918/2018: zwischen Integration und Desintegration“ hielt Prof. Dr. Philipp Ther, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas in Wien. Auf die Habsburger Monarchie sei 1918 zwar eine neue staatliche Integration gefolgt, in der Kultur, Literatur und ähnlichen Bereichen habe das Reich aber vor allem in der neu gegründeten Tschechoslowakei fortgelebt. Als Gründe des Zerfalls nannte er die vielen Nationalitäten, die Entwicklung zu einer Diktatur während des Ersten Weltkriegs – trotz zuvor demokratischer Tendenzen - und den Druck durch Woodrow Wilsons 14 Punkte. „Der Nachfolgestaat für das Habsburger Reich war eigentlich die Tschechoslowakei, ein Staat, der an sich und seine Mission glaubte“, so Ther. Aber auch dessen Defizit, die Nichtbeachtung der Deutschen, nannte der Referent, auch wenn später die deutschen Parteien politisch eingebunden wurden. Das Fehlen übernationaler Parteien nannte Ther ebenso wie das schlechte Verhältnis zwischen den Tschechen und Slowaken. Trotzdem attestierte er dem tschechoslowakischen Staat eine große Integrationsleistung. In den späten 1930er Jahren habe dann der Desintegrationsprozess eingesetzt, vor allem durch äußere Faktoren, aber auch durch antidemokratische Parteien. Mit Blick auf heute beleuchtete Ther besonders die Visegrád-Staaten, die vor der Wende „Außenposten der früheren Ostblock-Staaten“ gewesen seien. Mit der Annäherung Österreichs im Jahr 2016 an diese Staaten (Flüchtlingskrise) habe sich in Österreich die ursprünglich von großer Offenheit geprägte Stimmung in Skepsis, Misstrauen bis hin zu Ablehnung gegenüber Flüchtlingen gewandelt. „Beim Streit um die Flüchtlinge geht es auch um die Frage der nationalen Souveränität. Auf europäischer Ebene droht die Gefahr einer Desintegration“, nannte der Referent einen weiteren Punkt. Dem stellte er am Ende seiner Ausführungen die Aussage entgegen, dass es in den europäischen Staaten auch integrierende Aspekte gebe, die neu entdeckt werden sollen.

Die weiteren Vorträge und Podiumsgespräche fanden im Konferenzsaal des Hotels International statt. Den Auftakt machte der an der Universität Szeged lehrende Prof. Dr. András Máté-Tóth, der zum Thema „Ticken die Länder der Visegrád-Gruppe anders?“ sprach. „Viele Traditionen und regionale Reflexe kann man nicht vereinheitlichen. Europa war nie einheitlich und kann auch nicht vereinheitlicht werden“, lautete Máté-Tóths These. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stellte er eine Vielfalt in Westeuropa und eine Einförmigkeit in Osteuropa fest. „Ab 1989 trat die zum Schweigen gebrachte Vielfalt ans Tageslicht“, erklärte er und nannte dies das „Phänomen der freigesetzten Erinnerungen“, die starke Wirkung für private und kollektive Identitäten hatten und Sicherheit bieten. In Europa stehe nicht die Frage nach dem Lebensstandard oder der parlamentarischen Demokratie im Fokus, sondern woran die Menschen ihre kollektive Identität knüpfen, so der Professor. Und da gehe es nicht mehr um Ost und West bzw. die Zweiteilung Europas. Als weiteren Aspekt führte Máté-Tóth die heutige materielle und spirituelle Unsicherheit der Menschen an, wobei in Ostmitteleuropa 25 bis 40 Prozent der Menschen der Kategorie „people at risk“ (risikogefährdete Leute) angehören. Zu den spirituellen Inhalten zählte der Hochschullehrer auch die Tatsache, dass in den Visegrád-Staaten zum Teil sehr lange die Träume von nationaler Eigenständigkeit oder auch von Minderheitsexistenz nicht erfüllt wurden und die nun erreichte Souveränität wieder abgegeben werden sollte. „Alle unsere Länder haben eine traditionelle, spirituelle Geschichte. Diese sind prägend und machen anfällig für Xenophobie und ähnliche Verhaltensweisen“, fasste der Referent diesen Bereich zusammen. Mit Blick auf diese Zentralfragen der Modernität und auf die kollektiven Verwundungen empfahl Máté-Tóth eine „sachgerechte Diskussion“, bei der vor allem der Aspekt Sicherheit im Vordergrund stehen sollte. Außerdem sollten die „echten christlichen Werte Europas nicht vergessen werden“, schloss er seinen Vortrag.

„Tschechiens Suche nach seinem Platz in Europa“ beleuchtete im zweiten Kurzreferat Senatspräsident a.D. Dr. Petr Pithart. „Seit 1989 gibt es keine Außenpolitik“, ging er hart mit der Politik seines Landes ins Gericht – sei es die Position in der EU, die Einführung des Euro usw. „Die Gedanken von Havel, Walesa und anderen wurden vergessen“, kritisierte Pithart. Václav Havel sei anfangs Richtung Amerika sowie NATO und EU orientiert gewesen, sein Nachfolger Václav Klaus habe sich zunehmend von den EU-Verträgen distanziert, und Miloš Zeman sei Richtung Russland und China geschwenkt, „an die Seite der Giganten und der Sonne“, so der frühere Senatspräsident. Auch der jetzige Premierminister habe keine Prämissen in der Außenpolitik. Eine besondere Außenpolitik würden hingegen die Teilnehmer am Brünner Symposium ausüben. Als einen der wenigen Glanzpunkte nannte Pithart die Deutsch-Tschechische Erklärung mit den dort verankerten Einrichtungen. Die Öffentlichkeit wünsche nach Pitharts Einschätzung eine Neutralität Tschechiens neutral sein, „damit uns niemand befehlen kann“. Als Grund dieser Haltung sieht Pithart das Misstrauen und die Überempfindlichkeit, aber auch die Gleichgültigkeit. „Es ist noch nicht alles verloren. Aber es ist bequem, irgendwo dazwischen zu bleiben. Das ist verderblich und verführerisch“, schloss Pithart seine Ausführungen.

Moderiert vom Prager Journalisten Luboš Palata diskutierten Dr. Tomáš Kafka, der Berliner Politikwissenschaftler Dr. Kai-Olaf Lang, Prof. Dr. András Máté-Tóth und der Warschauer Journalist Rafał Woś die Frage „Zwischen Kooperation und Sonderweg. Spaltet die Visegrád-Gruppe Europa?“ Lang sprach von 28 Sonderwegen, wobei seiner Ansicht nach die Visegrád-Länder zwar „verhaltensauffällig“ seien, jedoch immer wieder die Zusammenarbeit suchen. Im Fokus stehe auch eine europa- bzw. wertepolitische Dimension. Den Visegrád-Staaten gehe es darum, angesichts des geplanten Umbaus der EU in eine polyzentrische Gemeinschaft ihre strategische Autonomie zu erhalten, also die bisherige Form der EU zu verteidigen. Andererseits konstatierte Lang eine Wertelücke in Europa, eine West-Ost-Polarisierung beim Thema „liberaler Universalismus“. „Die Visegrád-Länder sind mit sich selbst beschäftigt und nicht strategie- und konfliktfähig. Die Retromodernisierung geht einher mit Machtkumulation und Foulspiel. Die Situation ist möglich, dass manche dieser Länder abdriften“, analysierte Lang die Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven. Daher sei die Debatte um die liberalen Demokratien zu fördern.

Die Rahmenbedingungen der EU-Beitritte der Visegrád-Länder beleuchtete Rafał Woś. Er verglich es mit dem Verhältnis eines Patrons zu einem Klienten, verbunden mit Drohungen bei Nichterfüllung bestimmter Kriterien. Auch die mangelnde Solidarität zu schwachen EU-Ländern (Südländer, Irland), die Ungleichbehandlung einzelner Staaten, die ökonomischen Ungleichheiten, die neoliberalen Tendenzen und die Ablehnung von Vorschlägen der Visegrád-Länder kritisierte der Journalist. Er forderte Gespräche auf Augenhöhe. Seiner Meinung nach hat sich im Jahr 2015 in Polen nichts Grundlegendes geändert.

„Die Visegrád-Länder haben kein Problem mit dem Mehrgeschwindigkeitseuropa, aber mit der Aufteilung in Ost und West“, stellte Dr. Tomáš Kafka fest. Er sprach von mentalen Grenzen (optimistisch/pessimistisch), wobei der Pessimismus vor allem in den Visegrád-Staaten ausgeprägt sei. Für Kafka ist der von Frankreich vorangetriebene Universalismus aufgrund der verschiedenen Mentalitäten falsch. Die Mentalitäten hätten auch mit dem historischen Bewusstsein zu tun. Vor dem Hintergrund der Radikalisierung der politischen Rechte in Europa forderte Kafka, „keine weitere Trennlinie in Europa zuzulassen“. Die Strategie der Visegrád-Länder sieht er als eine von mehreren in Mitteleuropa.

Als Verdienst des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán sieht Prof. Dr. András Máté-Tóth die Tatsache, die Diskussion über Flüchtlinge und Migration in Europa geweckt zu haben. Auch habe Orban auf die Debatte über die Gestalt Europas als europäischer Staat oder aber als Förderation hingewiesen. Wichtig ist für Máté-Tóth, die Diskussion analytisch zu führen. Zudem dürften die verschiedenen und oft sehr wichtigen Traditionen der einzelnen Länder nicht vergessen werden. „Die Situation in Europa ist ernst, aber nicht tragisch. Es sind keine Krisen, sondern Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen“, fasste der ungarische Professor zusammen. Er machte zudem deutlich, dass nicht allein die Regierungen die jeweiligen Länder abbilden. „Die Suche nach einer funktionierenden Demokratie wird in unseren Ländern weitergehen“.

Den Abschluss des Symposiums bildete am Sonntagvormittag eine von dem Journalisten Kilian Kirchgeßner moderierte Diskussion am Podium zum Thema „Gegen den Zerfall und für ein neues Miteinander. Was schafft Vertrauen in Europa?“ Der in Cardiff lehrende tschechische Prof. Dr. Jiří Přibáň wies in seinem Statement auf die wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Interessen in der EU hin. Fakt sei zudem, dass Europa nicht nur integrieren, sondern auch desintegrieren kann. Großbritannien habe die EU in erster Linie als ein wirtschaftliches Projekt gesehen. Der in Tschechien diskutierte „Czexit“ sei Ausdruck einer „Politik des gepflegten, geplanten, langwierigen Misstrauens“ und bedeute nichts anderes, als sich „in den böhmisch-tschechischen Kessel einzuschließen“. Přibáň hielt dem entgegen: „Wir leben in einem geopolitischen Raum, gegenseitiges Vertrauen muss gepflegt werden.“ Der Soziologe ging auch auf die neuen Medien, Fake News und ähnliche Aspekte ein. „Liberalismus bedeutet auch Pluralismus. Wir müssen fähig sein, in einer bunten Welt leben zu können.“ Und hier sei der Dialog das beste Mittel, um bestehen zu können. Die EU charakterisierte er als Wertegemeinschaft, hinsichtlich Polen sprach er vom „Zerfall des Rechtsstaats“. Als Problem der EU sah er auch, „zu spät auf Äußerungen und Kampagnen wie die von Orban zu reagieren.“ Es gebe, je nach Land, unterschiedliche Sieger und Verlierer der Globalisierung. Nötig sei grundsätzlich Kommunikation. „Wie wir miteinander sprechen, das wird den Charakter der EU bestimmen“, war sich Přibáň sicher. Und das sei eine Aufgabe für jeden Tag.

Seine tiefe Enttäuschung über den Brexit Großbritanniens äußerte der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Prof. Dr. Thomas Sternberg. Neben der Sehnsucht nach einfachen Antworten und Lösungen sah er den Mangel an Informationen und der Verankerung der europäischen Idee als Grund für den Euroskeptizismus. Er schlug Narrative, d.h. Erzählungen über Europa und seine Gründungsgeschichte, vor, um Wissen zu vermitteln und zu vertiefen. Den Begriff „Zerfall“ findet Sternberg zu hart für die aktuellen Vorgänge. „Hoffentlich werden wir nicht so weit kommen“, gab er zu bedenken. Als (christliche) Werte nannte er in Anlehnung an Papst Franziskus für Europa die Fähigkeit zur Kreativität sowie die Kontinuität von Dialog und Integration. Auch müsse das 19. Jahrhundert, d.h. der Nationalismus, endlich überwunden werden. Für Sternberg herrscht zudem eine Ungeduld hinsichtlich des Angleichungsprozesses. Solche Prozesse – Beispiel Saarland – könnten bis zu zwei Generationen dauern. Daran müssten sich viele beteiligen, auch Kräfte der Zivilgesellschaft (Gläubige). Aufgrund ihrer Übernationalität biete die katholische Kirche besondere Chancen. Konkret sprach sich der ZdK-Präsident für mehr Austauschprogramme in Europa und für Begegnungen in unmittelbaren Nachbarschaften aus.

Für den Leiter des Instituts für empirische Forschung STEM und Kandidaten für das Amt des tschechischen Staatspräsidenten Pavel Fischer ist nicht die Polarisierung der Gesellschaft das Grundthema. Vielmehr hält er es für wichtig, „den Dialog zu führen, kritisch nachzudenken und rechtzeitig zu antworten. Wir sollten zulassen, dass es zu einem Zerfall kommt – einem Zerfall unserer Illusionen“, verdeutlichte Fischer. Er konkretisierte das am Verhalten Russlands im Europarat, beim Helsinki-Prozess, beim Dialog mit der NATO und in der UNO. „Der Zerfall betrifft auch unsere Vorstellungen über die Welt“, fasste Fischer zusammen. Er hat auch kein Verständnis dafür, dass Tschechien bisweilen Angelegenheiten mit dem Nachbarland Deutschland über Brüssel regelt. Die tschechische Regierung kritisierte Fischer, dass sie seit der EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2008 europapolitisch keine Initiativen ergreift, nichts mitgestaltet oder zumindest die Europapolitik erklärt. Die anstehende erneute EU-Ratspräsidentschaft der Tschechischen Republik biete da vielleicht Chancen. „Wir sind quasi Trittbrettfahrer“, beschrieb Fischer die Lage, auch wenn durchaus nicht alle Euroskeptiker sind. „Je mehr sich die Menschen kennenlernen, umso besser werden die Beziehungen der Länder und Staaten. Und je mehr sich die Menschen für die Politik interessieren, umso positiver werden die Beziehungen zwischen den Ländern beurteilt. Wo Europa fehlt, da öffnet sich der Raum für Populisten“, lautete Fischers These.

Dass die Polarisierung der Gesellschaft, zumindest in Ungarn, wo sie seit 2004 tätig ist spürbar sei, betonte die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Ellen Bos. Konkret datierte sie die Unzufriedenheit über Ungarns Position in der EU auf das Jahr 2011 mit Anti-EU-Kampagnen der Regierung als Folge. Aber man müsse unterscheiden: die Position der Regierung werde nicht von der gesamten Bevölkerung geteilt. „Ein Teil der Gesellschaft erwartet von der EU, ein Gegengewicht zur aktuellen Regierung zu bilden“,erläuterte Bos. Der Zerfall bezieht sich ihrer Meinung nach auf die gemeinsame Wertegrundlage, und dies bringe Probleme, wenn man sich nicht mehr auf eine gemeinsame Wertegemeinschaft verständigt. Die Folge sei ein „Relativismus der Werte“. Mit dieser Entwicklung gehe zudem eine starke Rückbesinnung auf nationale Aspekte einher, die eigene Nation wieder größer erscheinen zu lassen. Der Euroskeptizismus werde stark von politischen Eliten gefördert und instrumentalisiert, trotz europafreundlicher Gesellschaften etwa in Ungarn und Polen, differenzierte die Professorin. Diese Unzufriedenheit müsse man jedoch ernst nehmen, „der erhobene Zeigefinger ist falsch und nicht angemessen.“ Zu den Verlierern zählt Bos eindeutig etwa die Volksgruppe der Roma in Ungarn und der Slowakei. „Gut ausgebildete Menschen gehen in die Länder Westeuropas“, verdeutlichte sie. Eine aktive Zivilgesellschaft sieht Bos in Ungarn als Hoffnungsträger – trotz Initiativen der Regierung, die Tätigkeit solcher Gruppen einzugrenzen. Darüber hinaus kann sie sich ein positives Projekt vorstellen, das mit Europa verbunden ist, sowie – wie auch von Sternberg erwähnt – ein Narrativ, und vor allem Sicherheit (Grenze, sozial, ökonomisch).

Markus Bauer

Podiumsgespräch des Autors Josef Beránek mit Monsignore Anton Otte

„Der Dialog muss fortgesetzt werden!“

Unter dem Titel „Fernes Europa“ stand beim Brünner Symposium im Kristallsaal des Alten Rathauses ein Gespräch zwischen dem Prager Autor Josef Beránek und Monsignore Anton Otte über – wie es im Programm hieß - „Deutsche und Tschechen und ihren Platz in Europa“. Mitbeteiligt an der Veranstaltung war die Tschechische Christliche Akademie. Der Dialog bot auch einen ersten Vorgeschmack auf das Interviewbuch mit Otte, das Beránek im Laufe dieses Jahres veröffentlichen wird.

Ausgangspunkt dieses Projektes war vor etwa vier Jahren eine Konferenz, bei der es um das damals heiß diskutierte Thema „Griechenland und Solidarität“ ging. Viele der bei jener Tagung gewonnenen Eindrücke – auch seitens Anton Otte - sowie das seit 1992 in Iglau bzw. seit 2007 in Brünn durchgeführte Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ mit Otte als einen von wenigen noch lebenden teilnehmenden Personen aus der Anfangszeit ließen bei Josef Beránek die Idee reifen, eine Biografie in Form eines Interviewbuches über diesen vielfach gewürdigten und ausgezeichneten Priester zu erarbeiten.

So bewertet Otte die deutsch-tschechischen Beziehungen als gut – auch wenn Krisen bzw. Höhen und Tiefen, so Otte, zum Leben wie auch zu bilateralen Beziehungen gehören. So habe man Mitte der 1990er Jahre („diplomatische Eiszeit“), als die erste Begeisterung nach der Wende verflogen war, durchgehalten und beharrlich die Kontakte gepflegt sowie die bewährten Gesprächsforen und Symposien durchgeführt. Diese Aktivitäten und deren Inhalte bzw. Dokumentationen hätten – natürlich in Verbindung mit Unternehmungen Anderer - schließlich zur Deutsch-Tschechischen Erklärung im Jahr 1997 geführt – bis heute „ein Meilenstein der deutsch-tschechischen Nachbarschaft“ angesichts der darin fixierten Einrichtungen Zukunftsfonds und Gesprächsforum, so Anton Otte im Rückblick

Ein entscheidender Einschnitt in Ottes Leben und Wirken war seine Rückkehr im Jahr 1992 nach Tschechien, konkret nach Prag als Leiter des Prag-Büros der Ackermann-Gemeinde. Aufgewachsen ist er in  Weidenau nahe der Grenze zu Polen. „Von Prag habe ich damals gelesen, ich habe die Stadt auch mehrmals besucht und war begeistert. Aber mein Heimatort war ja fast am Ende der Welt. Ich bin in der Schule unter tschechischen Kindern groß geworden“, erinnert er sich. Aus der Kriegszeit sind ihm die Bombenabwürfe im Jahr 1945 in seiner Heimatregion noch gut in Erinnerung. „Nie wieder Krieg! Dafür muss alles getan werden!“, schwörte er sich bereits damals. Anfang der 60er Jahre dann die Aussiedlung aus der Tschechoslowakei. In Deutschland war er als Priester des Erzbistums Bamberg mit Tätigkeiten als Kaplan, Religionslehrer an einem Gymnasium und schließlich als Gefängnisseelsorger gut integriert. „Ich bin immer dorthin gegangen, wohin man mich geschickt hat. Meist war ich für diese Aufgaben nicht besonders gerüstet. Aber mit Gottes und der Menschen Hilfe hat es immer geklappt“, erklärte Otte.

So war es auch im Jahr 1992, als ihn die Ackermann-Gemeinde bat, die Leitung des neu eingerichteten Büros in Prag zu übernehmen. Die Ackermann-Gemeinde war in Prag und Tschechien gut angesehen, und so hatte er keine Schwierigkeiten bei seiner Arbeit und beim Knüpfen von Kontakten. „Ich fand eine offene Tür bei den Deutschen, die hier geblieben sind. Die Ackermann-Gemeinde war quasi der Türöffner“, beschreibt Otte die Situation 1992. Die Vermittlung materieller Hilfen in kirchliche Kreise für das Bildungswesen bzw. katholische Schulen, Anschaffung von Lehrbüchern und Hilfsmitteln – erneut Tätigkeitsfelder, mit denen er bisher nur wenig zu tun hatte. Aber mit den Leitworten der Vertriebenenseelsorge nach dem Zweiten Weltkrieg „Trösten, Ratschläge geben, helfen“ schaffte er auch dies. Und er weckte das Interesse bei Journalisten, denen er regelmäßig und bereitwillig Auskunft über seine Arbeit und die anstehenden Projekte gab. „Man hat mich aufgenommen – und sie haben gespürt, dass ich sie mag“, bilanziert er nach 26 Jahren.

Mitgeprägt – immer auch durch seine Wortbeiträge – hat Toni Otte auch die früheren Marienbader Gespräche ab 1991 sowie die Iglauer bzw. Brünner Symposien seit 1992. Die beiden Tagungen haben ihre Wurzeln in einem zur Wendezeit stattgefundenen Treffen in Marktredwitz mit tschechischen Partnern. „Wir konnten uns damals noch nicht über eine gemeinsame Erklärung einigen“, erklärt Otte zu diesen Anfängen. Eine Schiene, bei der dieser Dialog fortgeführt wurde, waren bis 2003 die eher religiös geprägten und auf kirchlicher Ebene fußenden Marienbader Gespräche, die andere das Iglauer Symposium, bei dem zunächst die gemeinsame Geschichte und später gesellschaftspolitische Fragen thematisiert wurden. Die Tatsache, dass beim Iglauer/Brünner Symposium von Beginn an auch Leute außerhalb des religiösen Umfeldes teilnahmen, führte zur Umorientierung bei der Themenwahl hin zu aktuellen, die Menschen beschäftigenden, länderübergreifenden, schließlich europäischen Inhalten.

Ebenso prägend für Ottes deutsch-tschechische Versöhnungsarbeit war die Begegnung und der Austausch mit Petr Příhoda. Dieser hatte seinen Vater im KZ verloren und sprach – was vor der Wende fast unmöglich war – über die Vertreibung der Deutschen und seine Erfahrungen in den Grenzgebieten. Anton Otte seinerseits schilderte Greuel der Nazis – und beide vermittelten ihre Erfahrungen bei vielen Anlässen und Veranstaltungen. „Zur Versöhnung gehört, zunächst die eigene Schuld zu bekennen und sich ihr bewusst zu werden.“ Diesen Ansatz hat Otte mit solchen Aktivitäten umgesetzt.

Zusammenfassend und mit Blick auf die Zukunft empfindet Toni Otte „Freude darüber, dass es so ist, wie es ist. Aber man muss sich weiter anstrengen, dass bestimmte Fragen noch geklärt werden. Sonst gibt es Unklarheiten. Der Dialog muss langfristig angelegt und fortgesetzt werden!“ Zur Klärung dieser Dinge will Otte auch weiterhin beitragen. Und zur positiven Zukunft der Ackermann-Gemeinde. Denn, das ist Ottes Meinung, „Nachbarschaft ist ein beständiges Thema, das es zu bearbeiten gilt“. Mit anderen Worten von ihm: „Ich habe immer ein gutes Zusammenleben mit all den anderen erlebt. Das war auch ein Motiv für die Arbeit in der Ackermann-Gemeinde. So können die Wunden aus der Vergangenheit geheilt werden. Die Pflege guter nachbarschaftlicher Beziehungen hat für die Zukunft immer Geltung.“ So schloss Otte das Interview, bei dem ein weiteres Mal die geistliche Dimension sichtbar wurde, die Otte auf seine ganz spezifische Weise seit über 26 Jahren in das deutsch-tschechische Verhältnis einbringt.

Markus Bauer

Gottesdienst mit Weihbischof Dr. Pavel Konzbul beim Brünner Symposium

„Jesus entgegen gehen!“

Zum Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ gehört traditionell am Samstagabend der Sonntagsvorabendgottesdienst in der Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt. Hauptzelebrant war heuer der Brünner Weihbischof Dr. Pavel Konzbul, die musikalische Umrahmung lag erneut in den bewährten Stimmen des Kinder- und Jugendchores der Brünner Philharmonie „Kantiléna“ unter der Leitung von Jakub Klecker und mit Jakub Janšta an der Orgel.

Die im Evangelium geschilderten Ereignisse des Palmsonntags nahm der Weihbischof zu Beginn seiner Predigt auf und ermunterte die Gottesdienstbesucher, genauso wie die begeisterten Menschen damals „Jesus entgegen zu gehen – mit ehrlichem Herzen, Glaube und konkreten Taten“. Alle seien zum Mitfeiern eingeladen aus Freude über die Ankunft Jesu. Doch der Weihbischof griff auch die zuvor verlesene Leidensgeschichte Jesu auf. „Der Mensch ist fähig zu einem großen Umschwung“, erläuterte der Geistliche. Daher bedürfe es eines festen Glaubens, es gebe „kein Leben ohne Glaube und Tod. Jesus hat das menschliche Schicksal des Scheiterns und Todes angenommen, er bereitet den Weg für uns vor“, so der Weihbischof, der aber auch klar machte, dass es nicht Gottes Wille sei, alles Leid zuzulassen. Dies könne der Mensch mit Hilfe des Gebets beeinflussen.

„Er hat unser Herz gewonnen“, dankte Monsignore Anton Otte am Ende der Messfeier dem Brünner Weihbischof. Mit einer Messe von Petr Eben, zwei Werken von Jan Křtitel Vaňhal sowie Kompositionen von Giovanni Pierluigi da Palestrina und Gabriel Faure bewies der Chor ein breites Spektrum. Nach dem Gottesdienst war dann die weltliche Feier angesagt, der Empfang auf der Burg Spielberg.

Markus Bauer

8. Europäischer Essaywettbewerb

„West- und Osteuropa – was trennt es und wo verläuft die Grenze?“

Angelehnt an das Thema des Brünner Symposiums ist traditionell der Europäische Essaywettbewerb, der in diesem Jahr bereits zum achten Mal stattfand und vom Bundesvorsitzenden der Ackermann-Gemeinde Martin Kastler – damals in seiner weiteren Eigenschaft als Europaabgeordneter – initiiert wurde. Im Rahmen des Symposiums wurden die Beiträge der drei ersten Preisträger vorgestellt. Das Thema lautete „West- und Osteuropa – was trennt es und wo verläuft die Grenze?“

Weitere Hintergründe, die zu diesem Essaywettbewerb führten, schilderte Kastler ebenso. So sei die Universitätsstadt Brünn natürlich prädestiniert, junge Leute zu europäischen bzw. deutsch-tschechischen Themen anzusprechen. Diese Überlegungen hätten zu der Idee des Essaywettbewerbs geführt, bei dem sich „Studierende Gedanken über Europa machen“ könnten. Mit regelmäßigen und zahlreichen Teilnehmern aus Deutschland, Österreich, Tschechien und weiteren Nachbarländern habe sich der Wettstreit bei heuer fast 40 Teilnehmern inzwischen etabliert. Bis 2015 verlieh Kastler die Preise zusammen mit seinen tschechischen Kollegen aus dem Europaparlament Jan Březina bzw. Dr. Libor Rouček, seither sind die Ackermann-Gemeinde und die Bernard-Bolzano-Gesellschaft dafür verantwortlich.

Die Bernard-Bolzano-Gesellschaft vertrat heuer Ondřej Matějka, der – auf das aktuelle Thema bezogen – weniger von einer Staatsgrenze, vielmehr von einer kulturellen bzw. Zivilisationsgrenze sprach. Auch verwies er auf die Kooperation mit der Brünner Masaryk-Universität. Von „Grenzen in den Köpfen“ sprach Martin Kastler, der bedauerte, dass zu wenig gegen diese Art der Grenzziehung getan wird.

Der dritte Platz des Wettbewerbs ging an Marianne Švecová (23) aus Bratislava, die leider nicht persönlich anwesend sein konnte, deren Essay aber natürlich vorgelesen wurde. Dabei ging es darum, inwieweit Mitteleuropa das Zünglein an der Waage ist und man von einer gemischten oder gemeinsamen Kultur sprechen kann. Als ein „schwer greifbares Thema, das aber überzeugend und verständlich“ dargestellt worden sei, bewertete  Matějka den Beitrag der Drittplatzierten.

„Ein Plädoyer für eine Kulturrevolution“. Diese Überschrift gab die in Wien studierende Laura Fischer (19) ihrem Essay. „Ein provokativer, spannender Beitrag. Es werden Fragen gestellt, die weh tun – mit dem Plädoyer zum gegenseitigen Geben und Nehmen“, urteilte Martin Kastler. „Der Ist-Zustand ist sehr gut beschrieben“, meinte Ondřej Matějka – vor allem die Beurteilungen der anderen bzw. Nachbarländer. „Das ist ein Muster, das in Europa gegenwärtig ist. Daran müssen wir arbeiten“, appellierte der Vertreter der Bernard-Bolzano-Stiftung. Die Preisträgerin sprach auf Nachfrage von Moderator Dr. Oliver Herbst von einer „Mentalität der Zweitplatzierten“, wonach im Westen alles besser sei.

Das Siegespodest beim diesjährigen Essaywettbewerb erklomm Stephan Gräfe (27), der in Hildesheim studiert, mit seinem Essay „Grenze als Prisma“. Martin Kastler gefiel hier besonders die Verwendung vieler Bilder und Vergleiche (z.B. West- und Osteuropa als Ehepaar) sowie der Schreibstil und das Tempo. Dies unterstrich auch Ondřej Matějka, der darüber hinaus den von Gräfe thematisierten Verweis auf die innerdeutsche Grenze und auf soziale Unterschiede verwies. „Es werden Probleme aufgezeigt, aber auch Anlass zu Optimismus gegeben“, fasste Matějka zusammen.

Mit der feierlichen Überreichung der Urkunden an die beiden anwesenden Preisträger Laura Fischer und Stephan Gräfe durch Martin Kastler und Ondřej Matějka endete der 8. Europäische Essaywettbewerb.

Markus Bauer

Die prämiierten Beiträge zum Lesen:

1. Platz Stephan Gräfe

2. Platz Laura Fischer

3. Platz Marianna Švecová