Alena Zemančíková: Geschichte in indirekter Rede

Es ist „wirklich ein ekelhafter Ort“, an dem Anna unterwegs ist. Der Weg von ihrer Arbeit zur Wohnung ihrer Mutter in Prag, in der sie an mehreren Tagen in der Woche übernachtet. Die vernachlässigte Metro-Station Kačerov, der tosende Verkehr, der nächtliche Exhibitionist, all das stößt sie ab. Anna ist bei ihrer Mutter nicht zu Hause, sie hat dort kein eigenes Zimmer.

Alena Zemančíková: Geschichte in indirekter Rede, aus dem Tschechischen von Daniela Pusch, KLAK Verlag Berlin 2019, 232 Seiten, ISBN 978-3-948156-10-7, € 16,90.

 

„Unausgesprochene Dinge“

Es ist „wirklich ein ekelhafter Ort“, an dem Anna unterwegs ist. Der Weg von ihrer Arbeit zur Wohnung ihrer Mutter in Prag, in der sie an mehreren Tagen in der Woche übernachtet. Die vernachlässigte Metro-Station Kačerov, der tosende Verkehr, der nächtliche Exhibitionist, all das stößt sie ab. Anna ist bei ihrer Mutter nicht zu Hause, sie hat dort kein eigenes Zimmer. „Ich wohne hier mit dem Gefühl, als hätte ich mir etwas zuschulden kommen lassen“, sagt sie. Nur, wo ist sie überhaupt zu Hause? Die Ehe mit ihrem Mann in Pilsen, es ist bereits ihre zweite, scheitert gerade. Ihr Ehemann, mit dem sie ein Kind hat, liebt eine andere Frau. Anna hat selbst eine Beziehung mit einem Arbeitskollegen, doch auch die scheint nicht zu halten.

Heimat finden in einer unbehausten, vielfach verbogenen und zerbrochenen Welt, darum bemühen sich die Personen in Alena Zemančíkovás Roman „Geschichte in indirekter Rede“. Sie haben zu kämpfen mit allerlei Widrigkeiten in der Tschechoslowakei zwischen den fünfziger und siebziger Jahren. Gerade nach dem niedergeschlagenen Prager Frühling, in der Zeit der sogenannten „Normalisierung“, ist angesichts des politischen Drucks und zahlreicher Entlassungen an ein normales Leben für viele kaum zu denken. Sie suchen sich Nischen. Für Annas Bruder Vítek gerät dagegen das Dasein vollends aus dem Lot. Als Anna mal wieder auf dem Weg zu ihrer Mutter ist, ruft Víteks geschiedene Ehefrau sie an und teilt ihr mit, ihr Bruder habe sich umgebracht.

Der Bruder, der sich immer um Anpassung bemühte hatte, nie aufmüpfig war und dem Alkohol verfiel, war für Anna mehr verlorene als wirkliche Heimat. Die beiden Geschwister wuchsen nicht zusammen auf, weil ihre Eltern sich getrennt hatten und der Vater den Jungen mit sich nahm. Anna lebte mit ihrer Mutter im Grenzgebiet. In die ehemaligen Häuser der Deutschen sind neue Bewohner eingezogen, die aus anderen Gegenden stammen. Doch dort, wo viele entwurzelt sind, findet Anna auch Leichtigkeit. Sie und ihre Mutter leben in einer ehemals deutschen Fabrikantenvilla mit einem großen Garten. „Meine Mutter saß hoch oben im Baum und trug eine Leinenhose, ein Sakko, hellblau wie der Herbsthimmel über uns, ihr roter Schopf leuchtete in der Sonne, und ich war unsagbar glücklich.“ Sie verliert sich in Büchern, auch in den Geschichten der Bibel, ohne religiös zu sein. Die Mutter studiert an der Fakultät für Aufklärung und Journalistik, aber erst die Tochter schafft es, Journalistin zu werden. Sie findet im Schreiben so etwas wie eine berufliche Heimat. An der Schauspielschule wird sie dagegen nicht aufgenommen, weil ihr Studium „nicht im Interesse der sozialistischen Gesellschaft“ sei.

Anna erzählt ihre Geschichte ohne Dialoge, in „indirekter Rede“, wie sie sagt, weil sie von „unausgesprochenen Dingen“ berichte. Von der Suche nach einem Weg zwischen eigenen Interessen und Selbstaufgabe. Alena Zemančíková führt durch eine Welt, die um Identität ringt und die einige Irrwege bereithält. Viele scheitern unterwegs. Aber das ist nicht nur ein Problem in der sozialistischen Tschechoslowakei. Die Frage, was es braucht, damit Menschen sich beheimaten können und ihre Beziehungen gelingen, ist universell. Sie betrifft auch Menschen, die unter besseren Bedingungen leben.

Markus Dobstadt