Andreas Kossert: Flucht
- Schicksale
Andreas Kossert hat als erster Historiker etwas gewagt, was vor ihm noch kein anderer unternommen hat: auf nur 453 Seiten eine Zeiten, Kontinente, Völker, Kulturen überschreitende und trotzdem oder gerade deshalb das Individuum stets im Auge behaltende „Menschheitsgeschichte“ unter einem einzigen Gesichtspunkt der sich immer wiederholenden Flucht zu beschreiben, analysieren, vergleichen und in größere Zusammenhänge einzuordnen, ohne die bisher von der „Zunft“ mit nur geringen Abweichungen stets geübten historischen Systematik. Er gestaltet damit eine sich zum Kollektiv verdichtende
Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte, Verlag Siedler München 2020, 432 Seiten, ISBN 978-3-8275-0091-5, € 25,00.
Andreas Kossert wird in diesem Jahr für sein Buch „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ mit dem Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung geehrt. „Es sei „nicht nur eine Geschichte der Flucht, erzählt aus der Sicht der Betroffenen selbst, sondern auch ein großes Plädoyer für Empathie und Mitmenschlichkeit. Eine Pflichtlektüre für alle, die heute Flüchtlings- und Integrationspolitik gestalten,“ heißt es in der Begründung der Jury. Die feierliche Verleihung erfolgt am 17. Mai 2021 in Berlin.
Weltgeschichte der Flucht
Andreas Kossert hat als erster Historiker etwas gewagt, was vor ihm noch kein anderer unternommen hat: auf nur 453 Seiten eine Zeiten, Kontinente, Völker, Kulturen überschreitende und trotzdem oder gerade deshalb das Individuum stets im Auge behaltende „Menschheitsgeschichte“ unter einem einzigen Gesichtspunkt der sich immer wiederholenden Flucht zu beschreiben, analysieren, vergleichen und in größere Zusammenhänge einzuordnen, ohne die bisher von der „Zunft“ mit nur geringen Abweichungen stets geübten historischen Systematik. Er gestaltet damit eine sich zum Kollektiv verdichtende menschheitsgeschichtliche Einzelschicksalserfahrung zu einem großen erkennbaren Mosaik farbig, einsichtig, eindrucksvoll. „Es geht um die Frage: was bedeutet es für einen Menschen, Heimat für immer zu verlieren, unter Zwang und Gewalt fliehen zu müssen und am Ende im Exil zu leben?“ Weiter schreibt er: „Aus der Perspektive von Flüchtlingen zu erzählen, bedeutet, die Weltgeschichte anders zu sehen. (…) Für meine Kernbotschaft greife ich auf unterschiedliche Quellen zurück: Tagebücher, Erinnerungen und Autobiographien von Flüchtlingen und ihren Nachfahren als Zeitzeugen, aber auch auf Reportagen von aktuellen Brennpunkten über Menschen auf der Flucht. Historiker verzichten meist auf Belletristik als Quelle, was bei diesem Thema zu bedauern ist“ (S. 22-23).
Auf dem engen Raum eines einzigen Bandes beschreibt der erfahrene Historiker von der geschichtlichen Erfahrung her die Grundthematik, dass „jeder morgen ein Flüchtling sein kann“ (S. 10ff.) und damit das weltumspannende „Gefühl“ einer verlorenen, versagten, zerstörten, abweisenden „Heimat“ (S. 134-337) zur Lebenswirklichkeit wird: „Ein Ziel dieses Buches war, eine Vielzahl von Stimmen widerzuspiegeln, die in ihrer Gesamtheit eine umfassende Version der Wahrheit erzählen“ (S. 358).
Der überkritische „Faktenchecker“ wird von Kossert durch einen genauen Anmerkungsteil mit insgesamt 591 Fußnoten sowie ein sehr ausführliches – auch Ausgefallenes zitierendes – Literaturverzeichnis, ein Personenregister und einen ebenso genauen Bildnachweis der im Text enthaltenen zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen bezüglich seiner Ungenauigkeitssuche in die Schranken verwiesen.
Kossert zieht einen geradezu riesigen Bogen von den Fluchterfahrungen des „Volkes Israel“ im Alten Testament bis zur Situation im Jahre 2021 (Kurden, Rohingya), von den Sklaven Afrikas bis zu den Sudetendeutschen, von den spanischen Sephardim der Vormoderne bis zur Judenverfolgung im Zarenreich und dem Holocaust zwischen 1941-45. Allenfalls könnte man einwenden, dass er Südosteuropa und damit auch den dort einst jahrhundertelang beheimateten Deutschen mehr Raum hätte widmen können.
Kossert lässt kaum eine relevante Fluchtursache, unterschiedliche Verläufe, Wege, Begründungen aus. Sogenannte „Ethnische Reinheit“, „kultureller Genozid“, Ideologien, „Heimweh“, Integration, „kollektive Erfahrung“, Entwurzelung, „Rückwärtsgewandtheit“, „globale Katastrophe“, Stigmatisierung und viel weitere Aspekte kommen in seiner weit ausholenden Darstellung zu Wort. So ergibt sich ein umfassend lebendiges und erschreckendes Bild der Hintergründigkeit menschlicher Existenz – fernab von den Schreibtisch-Systematisierungen und oft intellektuell hochmütigen abstrakten Formulierungen.
Dr. Otfrid Pustejovsky