Antikomplex (Hrsg.): Mitte am Rande - Gespräche mit Menschen, die dem Sudentenland ein neues Gesicht geben
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Neue Wurzeln vergrößern den Wissensdurst
Im Rahmen der von Antikomplex herausgegebenen Reihe „ Mitten am Rande, Gespräche mit Menschen, die dem Sudetenland ein neues Gesicht geben“ erschien 2023 der zweite Band über die Region Nordosten (siehe Heft 4-2022, Seite 28).
Es überrascht ein wenig, dass im Titel der Begriff „Sudetenland“ gebraucht wird, der ja in der Zeit nach 1918 als Bezeichnung für die Deutschböhmen geprägt wurde und reichlich missverständlich ist. Die Auskunft des Vorworts, dass dieser Begriff aus praktischen Kommunikationsgründen verwendet wird, ist zumindest kritisch anzufragen. Weiterhin ist anzumerken, dass sich die Autoren bei der beschriebenen Region Nordost nicht an die Grenzen der drei böhmischen Länder halten. Die Orte, von denen das Buch handelt, liegen sowohl in Böhmen, als auch in Mähren sowie in (vormals Österreichisch-)Schlesien.
Diese eher formale Kritik verblasst jedoch angesichts des hervorragenden Inhalts des Buches. Allein schon die Tatsache, dass diese Publikation in einem Buch die tschechische und die deutsche Fassung vereint, ist ein großartiger Ausdruck des Willens zur gelebten Völkerverständigung.
Ein sehr interessantes Interview führen die Herausgeber mit Petr Kulhavy aus Wildenschwert/Ústí nad Orlicí unter der Überschrift „Wurzeln zu schlagen bringt den Wunsch mit sich, mehr zu tun“. Hierbei steht der Gymnasiallehrer Kulhavy stellvertretend für viele aus seiner Generation, die nach Studium und ersten Berufsjahren in die Heimat im Grenzgebiet zurückgekommen sind. Am Beispiel des Gymnasiallehrers aus Wildenschwert und seiner Freunde bekommen die Leser einen Einblick in die örtliche Zivilgesellschaft. Der von dieser Gruppe ins Leben gerufene Verein veranstaltet beispielsweise in Wildenschwert regelmäßig ein Filmfestival und manch andere kulturelle Events, von denen so manche beim gemeinsamen Biergenuss geboren wurden.
Radovan Vlček ist als Grundschullehrer in Schatzlar/Žacléř bestrebt, seinen Schülern die Schönheit des östlichen Riesengebirges nahe zu bringen. An dieser Stelle wird auch besonders deutlich, dass die Vertreibung der sogenannten Sudetendeutschen in der ČSSR und auch noch in der späteren Tschechischen Republik sehr lange ein großes Tabu war. Dabei verbindet die heutigen Bewohner mit den Heimatvertriebenen die Liebe zur Landschaft.
Ein besonders spannendes Kapitel bildet die Beschreibung der Aktivitäten in Hultschin/Hlučin. Das sogenannte Hultschiner Ländchen gehörte seit dem zweiten Schlesischen Krieg zu Preußen, bis es in Folge der Pariser Vorortverträge 1920 an die Tschechoslowakei übergeben wurde. Dieses geschichtliche Hintergrundwissen bleibt dem Leser leider vorenthalten. Das Ziel des ortsansässigen Heimatmuseums ist es, bei klarer Wertschätzung für alle Identitäten das Selbstbewusstsein der deutschstämmigen Hultschiner zu stärken und auf offene und humorvolle Art auf die schlesische Vergangenheit Hultschins hinzuweisen.
Es überrascht wenig, wenn in einem der entchristlichsten Länder Europas das Thema Religion eine geringe Rolle spielt. Umso gewinnbringender ist es davon zu lesen, wie ein Verein die Renovierung der örtlichen Kirche in Tannwald/Tanvald in die eigenen Hände nimmt. Durch ihr Engagement kommen die Vereinsmitglieder auch mit ehemaligen deutschen Einwohnern Tannwalds in Berührung.
Das vorliegende Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis der Zivilgesellschaft und des herausragenden Engagements von Vertretern der mittleren und jüngeren Generation, gewissermaßen in der tiefsten Provinz. Dem Rezensenten hat das Lesen viel Freude gemacht!
Markus Ruhs
Veronika Kupková: Mitten am Rande. Gespräche mit Menschen, die dem Sudetenland ein neues Gesicht geben. Band 2: Nordosten, paralleler tschechischer Text verkehrt herum gedruckt, eigene Titelseite, Antikomplex Prag 2023, 137 Seiten, Abb., Karten, ISBN 978-80-906198-5-2, 250 Krč.