Arens/Bitunjac: Massengewalt in Südosteuropa

Zum Thema der Gewalt auf dem Balkan im 19. und 20. Jahrhundert haben die Herausgeber die Beiträge von zehn Historikerinnen und Historikern zusammen getragen.

Zehn Historiker aus mindestens fünf Ländern der Balkanhalbinsel und Deutschland nehmen sich eines Themas an, das dem weiten Publikum einerseits vage bekannt ist, andererseits war das „Publikum“, sprich, die Bevölkerung der hier behandelten Länder, wie so vieler anderer Länder im (süd)östlichen Europa auch, während der letzten zweihundert Jahre immer wieder selbst Akteur und Objekt eines todbringenden Phänomens. Ob im sich formierenden griechischen Staat nach 1800, in den slawisch-albanisch bewohnten Regionen Montenegros ab dem späten 19. Jahrhundert, im heutigen Nordmazedonien während der Balkankriege 1912/13 und in der Zwischenkriegszeit, in den umstrittenen Grenzregionen Italiens, Jugoslawiens, Ungarns, Rumäniens nach 1918 und bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – immer wieder erlebten die Länder in diesem Teil Europas Wellen oder auch Sturmfluten explosionsartiger Gewalt, die sich nicht nur gegen zivile Einzelpersonen richtete, sondern auch und vor allem gegen ganze Kollektive. Die Autoren werfen Schlaglichter auf einzelne, ihnen auch aus der eigenen Biographie bekannte Länder und Regionen – epochenübergreifend oder in unterschiedlichen geschichtlichen Perioden und Kontexten des Konflikts.

Angesichts zigtausender Toter und hunderttausender Vertriebener, Deportierter und Flüchtlinge auf dem Balkan spendet es immerhin ein wenig Trost zu lesen, dass es inmitten der entfesselten kollektiven Mordlust zwischen den Beteiligten immer wieder und gar nicht so selten Momente und Gesten selbstverständlicher, zwischenmenschlicher Solidarität und Hilfe über völkische, religiöse und ideologische Grenzen hinweg gegeben hat!

Was den Band jedoch so lesenswert macht: die Autoren spüren den Gründen nach, die zu diesen tragischen, sich gegenseitig hochschaukelnden Ausbrüchen von Gewalt (und Gegengewalt) beigetragen haben können. Hinweise und Erklärungsansätze finden sich mehrfach in den Aufsätzen, wobei es Ioannis Zelepos bereits am Anfang des Buches am Fallbeispiel Griechenland auf den Punkt bringt: „… Es handelte sich um ein Elitenprojekt, das, wie bei mehr oder weniger allen südosteuropäischen Nationalstaatsbildungen, von vorneherein von einer großen Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit geprägt war.“ Dabei „spielten europäische ‚Fremde‘ bekanntlich eine zentrale Rolle für den Ausgang des Unabhängigkeitskrieges und die anschließende Staatswerdung.“

Was auf dem „Balkan“ innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte passierte, ist in anderen Teilen Europas und der Welt und/oder in anderen Zeiten auch schon so ähnlich vorgekommen – was wiederum die vermeintliche Einzigartigkeit der hiesigen „Gewaltkultur“ relativiert. Bedenkt man außerdem, dass unsere Großeltern- oder Elterngeneration oder auch mancher von uns noch prägende oder traumatische Erfahrung mit diktatorischen, ideologisch hochgerüsteten, feindbildgetriebenen Regimen im 20. Jahrhundert machen „durfte“, die durch Massengewalt etabliert wurden und diese entsprechend rechtfertigt und angewendet haben, wird deutlich, dass dieses Buch über sich hinausweist und uns schließlich mit uns selbst konfrontiert – wirft es doch die Frage auf, wie wir uns selbst in jenen alptraumhaften und entmenschlichenden (Zwangs)Situationen verhalten hätten – als potentielle Opfer oder als potentielle Täter. Dieses Buch ist also ein Buch über uns alle – und hoffentlich auch ein Lehrbuch FÜR uns alle, denn auch die Gegenwart ist alles andere als frei von Massengewalt.

Hans Hedrich