Hans Dieter Zimmermann: Ein Rückblick auf 80 Jahre: Was ich der Gruppe 47 verdanke. Erinnerungen.

Was wie eine aktuelle Reportage aus Mariupol oder Charkiw klingt, sind die Erinnerungen des fünfjährigen Buben Hans Dieter Zimmermann an den 1. Januar 1945.

Mit solidarischen Grüßen nach Prag

„Die Bomber flogen über unsere Köpfe hinweg. Sie flogen so niedrig, dass wir die Gesichter der Soldaten in den Bombenschächten sehen konnten. Dann war die Stadt von Feuer und Qualm eingehüllt, so dass wir nichts mehr wahrnahmen.“ Was wie eine aktuelle Reportage aus Mariupol oder Charkiw klingt, sind die Erinnerungen des fünfjährigen Buben Hans Dieter Zimmermann an den 1. Januar 1945. Er überlebte das Bombardement mit Mutter und Bruder, sein Großvater starb in den Trümmern. In einem schäbigen Hinterhaus wohnte die Großfamilie eng und bescheiden beisammen. Spielsachen gab es keine, Spielplätze waren Ruinen. Versorgungszentrum war Großmutters Küche. Mit ihren siebzig Jahren wanderte sie noch über die Dörfer und verkaufte den Bauern Heiligenbildchen gegen Kartoffeln und Speck. Viele seiner Altersgenossen dürften sich wiederfinden in der Familiengeschichte aus der rheinhessischen Heimat zwischen Kreuznach und Bingen. Zu seinem achtzigsten Geburtstag hat sie der inzwischen renommierte Literaturwissenschaftler aufgeschrieben, zu Nutz und Frommen seiner Kinder und Enkelkinder. Wozu auch die Geschichten von den heimkehrenden Vätern gehören, fremd, unnahbar, traumatisiert durch die Gräuel des Krieges. Aber auch vom Leutnant in US-Uniform, emigrierter Jude aus Frankfurt, Hessisch babbelnd beim Wein am Familientisch und eine Freiheit verheißend, die das Leben der „hitlerfreien“ Jugend beflügelte.

Als erster aus seiner Handwerkfamilie machte er Abitur, studierte im nahen Mainz Germanistik und Philosophie, verschrieb sich dem Journalismus und der Literaturwissenschaft und landete schließlich als Literatursekretär der Akademie der Künste in der aufgewühlten „Frontstadt“ Berlin der sechziger Jahre. Die junge Schriftsteller-Generation rund um die „Gruppe 47“ setzte den Ton in der Akademie und in den gesellschaftlichen Debatten. Davon weiß Zimmermann manch erhellende und vergnügliche Episode zu berichten. Günter Grass war es dann, der Schicksal spielte im weiteren Leben des Hans Dieter Zimmermann. Er schickte ihn im Sommer 1970 mit solidarischen Grüßen an den schon verbotenen Schriftstellerverband nach Prag. „Ich war verblüfft, ich war entzückt, ich war sprachlos vor Staunen“, so schildert er seine Gefühle beim Blick von der Burg auf die Stadt. Dort, im Seitenflügel der Schweizer Botschaft, wohnte Pavel Kohout. Über ihn lernte er viele andere Dissidenten kennen: Vaculík, Klíma, Kosík, Landovský und Havel. Ändern konnte er deren Schicksal nicht, die sich als Heizer oder Fensterputzer verdingten. Hilfreich schon war der Kontakt, der die Isolierung durchbrach. Mal brachte er Geld bei seinen nächsten Besuchen, mal Geschenke von Anna Grass für die Witwe des Lyrikers und Übersetzers Vladimír Kafka, deren Sohn Tomáš heute Botschafter Tschechiens in Berlin ist.

Schließlich fand Zimmermann zu seinen eigentlichen literarischen Helden: Franz Kafka und Max Brod. Als Professor in Frankfurt/Main und Berlin publizierte er zahlreiche Bücher, organisierte Kafka-Kongresse in Deutschland und Prag. Von dort war es nicht weit zu den übrigen Literaten deutscher Zunge in der Masaryk-Zeit. Er traf Lenka Reinerová und Peter Demetz, die beide für eine Prager Kultur stehen, die es so nicht mehr gibt. Immerhin existiert das Haus der Prager deutschsprachigen Literatur, das die Erinnerungen bewahrt und fruchtbar macht.

Zwei weitere Projekte hat Zimmermann auf den Weg gebracht und vollendet. Zum einen die „Tschechische Bibliothek in deutscher Sprache“. Sie umfasst 33 Bände mit Titeln der tschechischen Nationalliteratur, die essentiell sind für die kulturelle Identität des Landes. Zum zweiten die elf Bände, die das Werk des 2011 verstorbenen Dichters, Diplomaten und Havel-Freundes Jiří Gruša überliefern.

Zimmermanns Rückblick ist weit mehr als eine private Familiengeschichte. Er lenkt den Blick auf das Land im Herzen Europas, das den Deutschen so nah ist und mitunter doch fern bleibt. Der Mann aus Rheinhessen hat diese Kluft überwunden. Václav Havel verlieh ihm dafür den Masaryk-Orden. Zu Recht.

Hans Jürgen Fink

Hans Dieter Zimmermann: Ein Rückblick auf 80 Jahre: Was ich der Gruppe 47 verdanke. Erinnerungen, Wieser Verlag Klagenfurt 2021, 200 Seiten, ISBN 9783990294765, € 21,00.