Helmut Gehrmann: Tschechischer nationaler Mythos als politische Religion und Rückwirkung auf das Glaubensleben in den böhmischen Ländern 1848-1948, hg. vom Institut für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien e.V., Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2016, 520 S. (= Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien - Neue Folge XVII), ISBN 978-3-87336-550-6, € 29,80.
Pflege eines Geschichtsmythos
Das seit einigen Jahren in Geiß-Nidda untergebrachte Kirchengeschichts-Institut unter der heutigen Leitung von Prof. Rudolf Grulich stellt das Buch von Helmut Gehrmann mit folgender Ankündigung vor: „Ein neues Buch unseres Instituts ist nicht nur für jeden Sudetendeutschen, sondern auch für jeden Europäer von Interesse“.
Doch dieses Buch von 520 Seiten hier vorzustellen ist gar nicht einfach, vor allem, da es eine komplizierte Thematik aus der Feder eines in der Schweiz tätigen katholischen Priesters aus der Trierer Diözese mit ostpreußischer Familienherkunft behandelt und laut Institutswerbung die Dissertation an der zwei Fakultäten umfassenden Pallotiner-Hochschule in Vallendar darstellt. Pfarrer Dr. Gehrmann kann – nach entsprechender Lektüre seines veröffentlichten, sehr umfangreichen Briefes an den Trierer Bischof Ackermann und seine Weihbischöfe (Kreisanzeiger vom 23. Februar 2016; hier zitiert nach www.kath.net/news/54136 am 11.04. 2016) – als eher konservativ-engagierter Priester angesehen werden, der mit seiner Veröffentlichung eine „christliche Botschaft der Versöhnung“ (S.16) übermitteln will. Der gute Wille verdient Respekt – doch ist dies noch nicht das angemessene Kriterium für wissenschaftliche Arbeit.
So hat der Verfasser mit immensem Fleiß eine große Fülle meist älterer Literatur durchgearbeitet. Der wissenschaftliche Anspruch wird leider durch zum Teil längst überholte historische Urteile, offenkundige Voreingenommenheiten des Verfassers, eine durchwegs unübliche Zitierweise in den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis, Hunderte von Schreibfehlern, falsch gesetzte tschechische diakritische Zeichen, auch Falschzitate (z.B. bei Kamil Krofta) und eine insgesamt offenkundig eher oberflächlich erfolgte Lektorierung prinzipiell geschmälert.
Fünf Großkapitel mit insgesamt 124 (nicht bezifferten) Unterkapiteln umfassen eine rund 1300jährige Religions- und Geistesgeschichte von der Kyrillo-Methodianischen Missionierung bis zur Vertreibung der Deutschen 1945/46: Geschichte, Mythologie, Nationalismus, Tschechen und Sudetendeutsche, Persönlichkeiten werden in einem weit ausladenden Darstellungsrahmen behandelt: Dabei werden Altbekanntes, oft bereits anderweitig gründlich Erforschtes mit deutlich erkennbarer ‚pädagogischer‘ Absicht in schwerfälliger Zitierweise (in sämtlichen Anmerkungen wird jeweils auch der Verlag zitiert) und immer wieder ungenau, ja unrichtig angeführten Literaturangaben (z.B. S. 159, Anm. 232: Kamil Krofta -Verwechslung von Titel und Verlag) ausführlich ausgebreitet: I. Politische Religion als Instrument der Machtausübung; II. Elemente des tschechischen Nationalmythos; III. Umsetzung mythisch geprägter Politik in der ersten und zweiten Republik; IV. Konsequenzen der Nationalisierung für das Glaubensleben; V. Die Vertreibung 1945/1946 – hier werden vorwiegend Erfahrungsberichte vertriebener deutscher Geistlicher abgedruckt. Diese bedürften aber einer systematischen und wissenschaftskritischen Aufarbeitung. Die in den vergangenen rund 25 Jahren seit der politischen „Wende“ von deutscher, tschechischer und slowakischer Seite vorgelegten Forschungen – zu nennen wären hier unter anderem Hoensch, Hans Lemberg, Seibt, Luft, Kořalka, Křen, Franzen, Eckert, Sláma, Pešek – sind weitgehend unberücksichtigt geblieben, zur Vertreibung fehlen die Dokumentationen von Heißig/Paleczek sowie Arburg/Staněk/Dvořák völlig.
Zusammenfassend ist zu sagen: Trotz des prinzipiell interessanten Problemansatzes führt diese Arbeit in der Erforschung der so komplexen Geistes-, Kirchen- und Politik-Geschichte der Böhmischen Länder (und der Slowakei) nicht weiter.
Dr. Otfrid Pustejovsky