Iris Wolff: Halber Stein
- Belletristik
„Wenn man sich erinnert, kann man nicht verlieren“
Wer kennt sie nicht, die Suche nach der eigenen Identität und die offenen Fragen nach der Zukunft? Es ist genau diese Frage, die die Protagonistin nach dem Abschluss ihres Studiums beschäftigt. Umso mehr, als sie sich in einer Welt zwischen verschiedenen Traditionen bewegt. Über 20 Jahre liegen zwischen der Kindheit und dem Aufwachsen bei der Großmutter in Siebenbürgen und dem Hier und Jetzt in Deutschland. Gemeinsam mit ihrem Vater begibt sich die junge Frau an den Ort der Kindheit zum Begräbnis der Großmutter. Im Haus der Großmutter werden Kindheitserinnerungen wach, lassen sie das Haus und die verschiedensten Räume neu erleben. Iris Wolff versteht es, mit Worten Bilder zu malen, die den Leser die Natur und die Landschaft erahnen lassen. Einfühlsam beschreibt die Autorin den Zwiespalt der Protagonistin um die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte der Großmutter, der Trauer um deren Verlust und auch den Verlust um die Orte der Kindheit, den Verlust von Heimat und Vertrautheit, ohne dabei nur die Retrospektive zu sehen. Sie zeigt auf, dass Heimat der Ort sein kann, an dem Erinnerungen verortet sind, die es gilt neu zu entdecken, sei es in den Gesprächen mit den Dorfbewohnern oder auch der Begegnung mit dem Jugendfreund. Iris Wolff lässt Natur und Landschaft vor dem inneren Auge entstehen. Kultur und Geschichte Siebenbürgens werden den Lesern aus den verschiedenen Sichtweisen der handelnden Personen nähergebracht, ebenso das Alltagsleben im heutigen Siebenbürgen, das sich aufgrund der Kargheit des Lebens von dem „Gewohnten“ sehr unterscheidet. Es gilt der Blick für das Wesentliche: „Wenn man sich erinnert, kann man nicht verlieren.“ Eine Grundaussage, die eigentlich darauf abzielt zu verdeutlichen „Nur wer sich der Vergangenheit stellt und diese kennt, kann auch eine Zukunft bauen.“ Wolff lässt in die Realität immer wieder Bilder der Vergangenheit einfließen, über die die Protagonistin Spuren von sich und zu sich findet. Die Autorin nimmt den Leser mit in die reiche geschichtliche und kulturelle Vergangenheit, lässt die Stickereien und Stoffe in den Schränken und Schubladen fast plastisch wirken und jeden auch an der Familiengeschichte und dem Geheimnis der Großmutter teilhaben. Ebenso wie die eingangs gestellte Sinnfrage, gibt es auch die Suche nach den „Erinnerungsorten“, die bestimmt auch jeder von uns besitzt. Diese „Erinnerungsorte“ helfen jedem bei der Suche nach Antworten auf die vielen Fragen, die das Leben stellt.
Um genau das geht es auch im Buch „Halber Stein“ – im Jahr 2014 mit dem Ernst-Habermann-Preis ausgezeichnet –, es handelt von Abschied, Heimat, Liebe und Freundschaft und der Kraft der Erinnerung, die die wahren Geschichten lebendig halten kann. Das Gefühl nicht „ganz“ zu sein, etwas fehlt zum Ganzen, wird hierdurch erklärt und indem man sich der Erinnerung stellt, wird dieser fehlende Teil dem eigenen Ich beigefügt und man wird zum Ganzen.
Es ist ein ruhiges, sanftes Buch, das durch die wunderbare Sprache besticht. Absolut fesselnd und schön geschrieben, besonders lesenswert, so dass man es nicht weglegen möchte.
Gabi Stanzel