Jana Frantová/Jan Polouček (Hg. der Originalausgabe): Noch sind wir im Krieg. Geschichten des 20. Jahrhunderts. Aus dem Tschechischen von Johanna Bratinka-Burghoff und Ondřej Bratinka, Drava Verlag Klagenfurt und Post Bellum Verlag Prag 2016, nach dem tschechischen Original von 2011, 179 Seiten, ISBN 978-3-85435-786-5, € 29,95.
Comic als Geschichtsbuch
Fast 50 Jahre, mit kurzen Unterbrechungen, dauerte das totalitäre Regime der Tschechoslowakei und die historischen Tatsachen dieser Zeit waren einer breiten Öffentlichkeit, vor allem der jungen Generation, unbekannt.
2001, mehr als zehn Jahre nach der „Samtenen Revolution“ in Prag, gründeten engagierte Journalisten und Historiker die Organisation Post Bellum, die es sich zur Aufgabe machte, Zeitzeugen dieser Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts aufzusuchen und ihre Berichte in schriftlicher oder akustischer Form festzuhalten, im Rundfunk und schließlich in der Datenbank „Erinnerung des Volkes“ (www.memoryofnations.eu) einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Pädagogische Projekte und Publikationen für Schulen sind mittlerweile weitere Projekte, die junge Menschen dazu zu führen sollen, selbst Fragen zu stellen.
Als 2008 die Romantrilogie „Alois Nebel“ von Jaroslav Rudiš als graphic novel erschien und besonders bei jungem Publikum großen Erfolg feierte und Mikuláš Kroupa von Post Bellum sich an Art Spiegelmans „Maus“ erinnerte, war wohl die Idee geboren, einige der aufgezeichneten Zeitzeugenberichte als Dokumentarischen Comic zu veröffentlichen, bis dahin in Tschechien noch weitgehend unbekannt.
2011 sind dreizehn Geschichten aus der Zeit von 1939 bis 1989 von namhaften tschechischen und slowakischen Comiczeichnern in Bilder umgesetzt und im Anschluss mit einem begleitenden Kommentar zur Person und zum Ereignis von den Autoren der Szenarien Mikuláš Kroupa, Adam Drda und David Bartoň ergänzt worden. Auch diese Publikation fand in Tschechien großen Anklang und wurde ausgezeichnet.
Der Titel des Buches „Noch sind wir im Krieg“ ist dem ersten Comic entnommen. General Sedláček, ein verdienter antifaschistischer Widerstandskämpfer, geriet Anfang der fünfziger Jahre in die Mühlen stalinistischer Schauprozesse, wurde im Gefängnis gefoltert, der Spionage angeklagt, verurteilt und erst nach neun Jahren Haft freigelassen. In allen Comics bekämpft und verfolgt das jeweilige Regime die Protagonisten, führt mit ihnen Krieg, weil sie Vertreter einer Volksgruppe, Widerstandskämpfer, Antikommunisten, Pfadfinder, Republikflüchtlinge, Dissidenten sind oder sich einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufhalten.
Eindrucksvoll haben die Zeichner die Lebensgeschichten in schwarz-weißen, farbig stilisierten oder recht aufwendig kolorierten Bildern gezeichnet und damit auch der Tragik der jeweiligen Person Ausdruck verliehen. Manche Zeitzeugen wie Luboš Jednorožec, der die Zeit des Prager Frühlings für die Flucht in die USA nutzte, hatten eine Chance für ein neues Leben. Andere Zeitzeugen bleiben zeitlebens tragische Figuren, etwa Rudolf Bělohoubek, der die Erschießung seiner Eltern erlebte.
Post Bellum lässt auch Zeitzeugen der Gegenseite zu Wort kommen, soweit sie bereit sind sich zu äußern. Zwei Comics erzählen die Geschichte von Menschen, die sowohl Opfer als auch Täter waren. Der Eine, Opfer des Naziregimes in Theresienstadt, aber als überzeugter Kommunist verblendet und laut Zeitzeugenberichten zum Verräter und Mittäter des kommunistischen Terrors geworden. Der Andere, zum Mitarbeiter der Staatsicherheit gezwungen, glaubte mit unbedeutenden Berichten niemandem zu schaden und die Staatssicherheit auszutricksen, aber nach der Wende wurde er mit der Liste der informellen Mitarbeiter konfrontiert und bereut sein Handeln.
Der Dokumentarische Comic ist ein noch junges Genre, seine Bilder und Sprechblasen packen den Betrachter auch emotional. Wer sich von diesen Comics ansprechen lässt, kann auch zu der Einsicht kommen, sich für die demokratischen Werte einzusetzen und sie zu verteidigen.
Adriana Insel