Jana Nosková/Jana Čermáková: „Ich hatte eine sehr schöne Kindheit“. Erinnerungen von Brünner Deutschen an ihre Kindheit und Jugend in den 1920er – 1940er Jahren, Prag/Brünn, 2013, 706 Seiten, Schwarz-Weiß-Bilder, Hartkarton, ISBN 978-80-87112-74-8 (Etnologický ustav AV ČR,v.v.i.Praha – pracoviště Brno), Kč 440,-.
Schöne Kindheiten in Brünn
Schriftliche Quellen, die den Alltag im zweisprachigen Brünn bis Mitte der vierziger Jahre widerspiegeln, haben Historiker in den zurückliegenden Jahren verstärkt auszuwerten begonnen. Nun kommen die Erinnerungen von 13 Brünner Deutschen mit dem Abstand von fast sieben Jahrzehnten hinzu.
Jana Nosková und Jana Čermáková haben 35 ehemalige Brünner Deutsche interviewt, von denen zwei Drittel bei Kriegsende die Stadt verließen bzw. verlassen mussten. Zu Recht verweisen die Herausgeberinnen einleitend auf den Umstand, dass die späteren Lebenserfahrungen der Interviewpartner in Deutschland und in der Tschechoslowakei/Tschechischen Republik die Kindheitsperspektive mitunter korrigiert haben. Dennoch wird mit den Mitteln der Oral History hier ein wichtiges Kapitel Brünner Stadtgeschichte erschlossen und durch die Zweisprachigkeit des wahrhaft gewichtigen Buches einem größeren Publikum zugänglich gemacht.
Das Buch selbst präsentiert „nur“ eine Auswahl der Interviews mit neun Frauen und vier Männern, die zwischen 1919 und 1935 fast alle in Brünn geboren worden waren und von denen vier Frauen nach 1945 in ihrer Heimatstadt verblieben. Nach einer knappen Skizze der ethnisch-nationalen Entwicklung Brünns seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zeigen die Herausgeberinnen Möglichkeiten und Grenzen der Oral History und beschreiben, welche drei Sphären in der Befragung im Fokus standen: Familie und Zuhause, Schule und weitere Lebensräume (u.a. der Freundeskreis) sowie die Bewegung in diesen bzw. deren Aneignung. Der Einfluss des sozialen Milieus spielt ebenso eine nicht unerhebliche Rolle wie die geschlechtsspezifische Erziehung, die Verwurzelung im katholischen Glauben oder die Tatsache, dass nicht wenige der Interviewten zweisprachig aufwuchsen, wobei hier der Kontakt zum tschechischen Hauspersonal eine wichtige sprachlich-kulturelle Mittlerfunktion ausübte, sofern nicht eine Mischehe die Bilingualität vorherbestimmte.
In den Erinnerungen spielen individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen des Brünner Alltags in den dreißiger und in der ersten Hälfte der vierziger Jahre eine wichtige Rolle, kommen bewegende Einzelschicksale zur Sprache, gibt es mit Blick auf die Reflexion des deutsch-tschechischen Zusammenlebens Trennendes und Verbindendes. Die späteren Lebenserfahrungen und die wachsende zeitliche Distanz haben die Dramatik des Jahres 1945, die mitunter traumatischen Erlebnisse und deren Vorgeschichte in der Erinnerung der Interviewpartner zum Teil etwas zurücktreten lassen. So entstand ein wichtiges Kapitel der Stadtgeschichte Brünns. Wenn diese Erfahrungen auch Eingang in das öffentliche Bewusstsein der heutigen Brünner fänden, wäre das ein großer Erfolg des Buches, das am Ende noch ein hilfreiches und umfassendes Glossar zu Orten, Gebäuden und Begriffen bietet.
Thomas Krzenck