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Jaroslav Melnik: Der weite Raum

„Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für das Auge unsicht¬bar.“ Diese viel zitierte Lebensweisheit, die ein einsamer Fuchs in der afrikanischen Wüste der Titelfigur von Antoine de Saint-Exupérys weltberühmter Erzählung „Der kleine Prinz“ ans Herz legt, ist mittlerweile fast schon zu einem biederen Kalenderspruch verkommen. Wie unheilvoll es dagegen sein kann, wenn ein Mensch seines Augenlichtes beraubt wird, davon handelt Jaroslav Melniks Roman „Der weite Raum“.

Melniks Domäne ist die Dystopie. In seinen Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten verbindet er das Genre der Science-Fiction mit politisch-philosophischen Zeitthemen. Nun ist der Hang zu dystopischen Weltuntergangsszenarien spätestens seit der Philosophie Schopenhauers fast schon eine zur Mode gewordene Geisteshaltung, zumal angesichts der gegenwärtigen Klimakatastrophe, dem Auftreten von Pandemien oder dem Aufblühen neuer autokratischer Kräfte. Allerdings entspringen Melniks Unkenrufe weniger einer künstlerischen Attitüde als vielmehr persönlichen biografischen Erfahrungen. Der Autor wurde 1959 in der heutigen Ukraine geboren und hat als Kind den Gulag miterlebt, bevor er 1989 ins litauische Vilnius auswanderte und von dort aus das Geschehen in seiner Heimat beobachtet.

Melniks Roman beschreibt im übertragenen Sinne die Umkehrung der Aufklärung. Im Englischen sinnigerweise als „Enlightenment“ bezeichnet, setzt dieser Begriff auf anschauliche Weise das Anknipsen des Lichts der Erleuchtung ins Bild. Doch in Melniks futuristischem Gedankenkonstrukt wird den Menschen durch das zuständige „Kontrollministerium“ das Augenlicht als zentrales Mittel der Erkenntnis, der Begegnung mit der Welt und mit ihrem Gegenüber verwehrt. Die Folgen: Das Gesichtsfeld verengt sich, die persönliche Welt bleibt beschränkt. Es fehlen geistige Weite und Horizont, das romantische Erschaudern vor den Gewalten der Natur, das Bewusstsein für alles Überirdische, Metaphysische. Durch die Ausprägung eines speziellen Sensoriums, das auf Personen und Gegenstände des unmittelbaren Umfelds ausgerichtet ist, nehmen die Menschen buchstäblich keinen Anstoß mehr. Gleichzeitig entfällt die Umwelt, das menschliche Gegenüber als notwendiger Spiegel für die Entwicklung einer eigenständigen Identität. 

Inmitten der von Blinden bevölkerten futuristischen Metropole Megapolis erhält Gabr durch eine „Erkrankung“ sein Augenlicht wieder zurück. Die Erfahrungen und Eindrücke, die er macht, bringen ihn immer stärker zwischen die Fronten. Die Ärzte des Kontrollministeriums deuten seine emotionalen Erfahrungen als Folgen seiner „Erkrankung“ und verabreichen ihm dämpfende Psychopharmaka. Seine Freundin distanziert sich von ihm. Schließlich wird er von einer Gruppe im Untergrund instrumentalisiert, um das Regime zu stürzen. Doch die Macht ist scheinbar immer korrumpierbar, egal wer sie ausübt, so die bittere Erkenntnis.

Melniks Roman ist eine Art Collage aus erzählenden Teilen, Briefen, fiktiven Lexikonartikeln und Zeitungsmeldungen. Dieser Stil mag vielleicht etwas didaktisch wirken. Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass das Buch mittlerweile in vielen ukrainischen Schulen zur Pflichtlektüre geworden ist. Insbesondere die eingestreuten Gedichte jedoch sind im Kontrast dazu von einer tiefen Innerlichkeit, die das Leben im eigenen Käfig sehr berührend in Worte fassen.

Dr. Christian Geltinger

Jaroslav Melnik: Der weite Raum, aus dem Litauischen von Markus Roduner, Roman, KLAK-Verlag Berlin 2021, 336 Seiten, ISBN 978-80-906198-5-2, 19,90 €.