Jaroslav Rudiš: Nationalstraße. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, Luchterhand München 2016, 160 Seiten, ISBN 978-3-630-87442-5, € 14,99.
Analyse eines Archetyps
Mit berechtigtem Unbehagen, das zuweilen an intellektuelle Überheblichkeit grenzt, beobachten viele Menschen in dem noch jungen Staatengebilde Europa den Drang nach nationaler Souveränität, den Willen nach Abschottung und die Hoffnung auf autoritäre Machtstrukturen gerade bei den Nachbarn derjenigen Länder, in denen viele noch die Auswirkungen restriktiver Systeme am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, der bezeichnenderweise als „friedliche“ oder „samtene“ Revolution in die Geschichte eingegangen ist, deuten wir Deutschen mit dem Zeigefinger auf Ungarn oder Polen, oft ohne uns die Ursachen dieser Entwicklungen vor Augen zu führen.
Der junge tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis, Jahrgang 1972, zählt zu denjenigen Euroskeptikern, die sich den Glauben an das Haus Europa bewahrt haben, dabei aber stets den Finger direkt in die Wunde legen: „Ich weiß, was läuft. Ich spüre, wie unser Europa wackelt.“ Der 44-jährige Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker hatte die Siegfried-Unseldt-Gastprofessur an der Humboldt-Universität Berlin inne, zwei seiner Bücher wurden verfilmt, darunter sein wohl bekanntestes „Der Himmel unter Berlin“. Er zählt heute zu den wichtigsten literarischen Stimmen Tschechiens, ist „einer der interessantesten Autoren seiner Breiten, weil er die Entwicklungen mitlebt, ein Ohr für die Historie hat“, so Dirk Schümer von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Rudis’ kürzlich auf Deutsch erschienener Roman „Nationalstraße“ ist der fiktive Monolog von Vandam. Es ist die schonungslose Analyse eines Archetyps, wie er vermutlich zahlreich zu finden ist, die Persönlichkeitsstudie des klassischen Verlierers der Wende von 1989. Es ist die Geschichte eines Menschen, dessen Welt komplett aus den Fugen geraten ist, der sich durch den Bruch in seinem Leben seiner Kindheit beraubt sieht. Es ist der Roman einer vaterlosen Generation, einer Generation, die ihre Väter nicht im Krieg, sondern in der Passivität von Minderwertigkeitskomplexen und Rückzug in die Opferrolle verloren hat. Es ist eine Generation, die weder im Persönlichen noch im Kollektiven erfahren hat, was es heißt, verantwortungsvoll und selbstbewusst zu leben, und jetzt in übertriebenem Männlichkeitsgebaren ein Ventil sucht für angestaute Aggressionen und dem Willen nach Selbstbehauptung. Rudis zeichnet den sukzessiven Abstieg Vandams, der als Polizist die samtene Revolution in Prag hautnah erlebt hat, über die Suspendierung vom Dienst auf Grund von Gewaltmissbrauch, Alkoholexzessen und Straßenschlägereien. In drastischen Bildern schildert er den tristen Alltag im Plattenbau und in den Vorstadtkneipen von Prag, wo Vandam mehr und mehr in den rechten Sumpf abrutscht: „Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen, Mann? Ganz Europa ist auf den Römern gebaut. Ich bin Europäer. Ihr etwa nicht? Heil dem Volk! Heil Europa! Neger raus. Zigos raus. Sozialschmarotzer raus. Schwuchteln raus. Böhmen den Tschechen.“
Jaroslav Rudis’ neuer Roman sollte Schullektüre werden. Wer ihn liest, wird mit Erschrecken feststellen, dass sein Vandam ein Archetyp ist, der beileibe nicht auf Osteuropa beschränkt bleibt. Man sieht vielleicht den Splitter im Auge des Nachbarn, aber der Balken im eigenen Auge bleibt allzu oft verborgen.
Dr. Christian Geltinger