Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise, Luchterhand Verlag München 2019, 544 Seiten, ISBN 978-3-630-87595-8, € 24,00.
Mit Bahn und Bier durch Böhmen
Dies ist ein Buch für Eisenbahnfreaks und Biertrinker, es erzählt Geschichte in Geschichten über Liebe und Leid und Leichen, die Geschichte Mitteleuropas.
Unterwegs mit dem Zug sind der 99jährige Wenzel Winterberg und der Altenpfleger Jan Kraus, der den sterbenskranken Mann eigentlich auf dessen letzter Reise, der „Überfahrt“ in eine andere Welt, begleiten soll. Der ihn stattdessen aber zurück holt in diese Welt, weil er aus Winterberg/Vimperk im Böhmerwald stammt. Und der von diesem nun genötigt wird, ihn auf einer ganz anderen Reise zu begleiten: per Bahn von Berlin nach Sarajewo. Für Winterberg eine Art Abschiedsreise in die eigene Vergangenheit: zum Schlachtfeld bei Königgrätz, dem Anfang von allen Katastrophen, wo zwei seiner Vorfahren, der eine bei den Österreichern, der andere bei den Preußen, ihr Leben ließen. Von dort nach Reichenberg/Liberec, seinem Geburtsort. Wo sein Vater, überzeugter Anhänger der Tschechoslowakischen Republik, im Rathauskeller von einem „Henlein-Trottel“ erschlagen wurde, weil er den Einmarsch der Wehrmacht in Prag nicht mitfeiern mochte. Und wo er, Winterberg selber, seine geliebte Lenka zum letzten Mal sah, die als Halbjüdin vor den Nazis nach Palästina fliehen wollte, aber nur bis Sarajewo kam. Und deren Mörder er nun dort ausfindig machen will. Historisches und Privates in einem Atemzug.
Als Reiseführer dient ein Baedeker von 1913, letzte Ausgabe vor dem Krieg, der die alte Ordnung des Habsburger Reiches zerstörte. Winterberg kennt ihn so gut wie auswendig und hört nicht auf, daraus vorzulesen: Über Länder und Leute, Eisenbahn- und Städtebau, über Kunst, Kulinarik und Kanonen. Und immer wieder Krieg, Tod und Verderben – „the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins“, wie ein von Winterberg gerne zitierter Engländer dieses Europa bezeichnet. Mitunter nervt die Faktenfülle den Leser wie den Reisegefährten Jan Kraus, der sich dann immerhin zu böhmischem Bier flüchten kann: „Der Bierschaum schmeckt sanft und sahnig und das Bier mild und hopfig“ – der Autor weiß, wovon er spricht. Immer aber beweist Jaroslav Rudiš einmal mehr sein überragendes Erzähl-Talent. Wie er die individuellen Schicksale seines merkwürdigen Reisegespanns mit den historischen Landschaften und Zusammenhängen in oft tragik-komischen Wendungen verknüpft, ist große literarische Kunst eines bereits mehrfach in beiden Ländern preisgekrönten Autors, der zu den Nominierten für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gehört (S. 11). Nicht minder sind es Duktus und Rhythmus der Sprache. Es ist das erste Buch, das er auf Deutsch geschrieben hat, und das doch auf wunderbare Weise den tschechischen Tonfall anklingen lässt. Wie um zu belegen, dass sich deutsch-tschechisches Miteinander nur dem ganz erschließt, der in beiden Sprachen zuhause ist. Die Sätze scheinen dem Takt historischer Gleisanschlüsse zu folgen, der die Geschichten vorantreibt und die Leser an sie fesselt. Bis zu einem unerwarteten, nicht unbedingt zwingenden Schluss.
Über diesem vielfach geschundenen und doch eng miteinander verbundenen Mitteleuropa liegt eine Melancholie, die oft als böhmischer Humor verstanden oder missverstanden wird. Gegenwärtig aber reicht sie weit tiefer: Rudiš führt uns wortmächtig die Risiken vor Augen, sollte der alte Kontinent erneut auseinanderbrechen.
Hans Jürgen Fink