Jiří Padevět: Blutiger Sommer 1945

Es ist nur ein Zufall, aber ein glücklicher. Dreißig Kilometer Luftlinie trennt die beiden Verlage – der eine in Leipzig, der andere in Halle an der Saale. Und doch will der eine vom anderen nichts gewusst haben. Dabei hatten sie es mit ein- und demselben Autor zu tun: dem Prager Historiker und Verleger-Kollegen Jiří Padevět.

Jiří Padevět: Blutiger Sommer 1945. Nachkriegsgewalt in den böhmischen Ländern. aus dem Tschechischen übersetzt von Jana Heumos, Verlag Tschirner & Kosova Leipzig 2020, 736 Seiten, ISBN 978-3-00-065967-6, € 49,80.

 

Topographie des Terrors


Es ist nur ein Zufall, aber ein glücklicher. Dreißig Kilometer Luftlinie trennt die beiden Verlage – der eine in Leipzig, der andere in Halle an der Saale. Und doch will der eine vom anderen nichts gewusst haben. Dabei hatten sie es mit ein- und demselben Autor zu n: dem Prager Historiker und Verleger-Kollegen Jiří Padevět.

Beide ließen je eines seiner voluminösen Werke ins Deutsche übertragen. Sie dokumentieren auf je mehr als 700 Seiten das Verhältnis von Deutschen und Tschechen in seinen dunkelsten Stunden: die deutsche Besatzung von Böhmen und Mähren auf der einen, die „wilden Vertreibungen“ der Deutschen in den Sudetengebieten auf der anderen Seite. Beides ist historisch aufs Engste miteinander verbunden. Deshalb ist es ein Glücksfall und großes Verdienst, dass beide Geschichtswerke dem deutschen Leser nun gleichzeitig zugänglich werden. Zusammen gelesen belegen sie einmal mehr: Geschichte ist nicht in Schwarz/Weiß zu teilen: Täter werden zu Opfern, Opfer zu Tätern.

Padevět arbeitet rein empirisch, mit ungeheurer Akribie und kriminalistischem Spürsinn. Von Ort zu Ort, von Straße zu Straße lokalisiert er die Stellen, wo im Reichsprotektorat von 1939 bis 1945 verhaftet, verhört, gefoltert und gemordet wurde. Padevět lässt die Fakten kommentarlos ihre eigene Sprache sprechen. Sie entwerfen eine Topographie des Terrors voller Grauen und Schmerz.

Besonderer Schmerz bereitete dem Prager Historiker, den Gewaltexzessen seiner Landsleute 1945 in den Sudetengebieten nachzuspüren. Wer in Deutschland wüsste nicht um die Mühen solcherart Vergangenheitsaufarbeitung! Um so mehr ist zu würdigen, wie gründlich Padevět mit diesem tschech(oslowak)ischen Tabuthema der Nachkriegszeit aufräumt. 570 Orte grausamster Verbrechen an deutschen Männern, Frauen und Kindern, Soldaten und Zivilisten, hat er identifiziert. Im Detail protokolliert er, wie und wo die Unglücklichen zu Tode gekommen sind. Er nennt Opfer und Täter beim Namen, druckt Totenlisten von Einzelmorden und Gruppenexzessen, fügt schwer erträgliche Originalphotos bei, weist auf Grabstätten und Denkmäler hin. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, muss auf einen Ritt durch die Hölle gefasst sein. Und doch ist es eine Fundgrube für jeden Familien- und Heimatforscher.

Gleiches gilt für das Schicksal der Männer und Frauen, die nach 1939 in Prag gegen die Nazi-Okkupation arbeiteten. Auch hier geht Padevět topographisch vor. 1.100 Adressen spürt er in den Hauptstadt-Bezirken auf und verknüpft sie, eher stenographisch, mit den zugehörigen Geschichten der Opposition und der Repression. Padevět nennt die vielen, die ihr Leben riskierten und zumeist verloren, unterschiedslos beim Namen: die bekannten Heydrich-Attentäter Gabčík und Kubiš ebenso wie ihre Helfer etwa im Sokol-Turnverein ‒ sie alle finden sich unter den 2.000 Namen im Personenregister des Bandes. Ihre große Zahl macht es schwierig, den einzelnen und seine Rolle im Prager Widerstand zu würdigen. Hier hätte der Hallenser Verlag nachhelfen müssen.

 

Hans Jürgen Fink