Klaus Brill: Im Osten geht die Sonne auf. Eine Entdeckungsreise durch das neue Mitteleuropa. Süddeutsche Zeitung Edition München 2014. ISBN 978-3-86497-194-5, 224 S, € 14,90.
Ein ganz anderer Reiseführer
Was kann ein gebürtiger Saarländer, Germanist, Romanist, als Journalist in London, Rom und Washington, erst 2005 als Korrespondent nach Prag, später nach Warschau entsandt, dem kundigen Schlesier oder Sudetendeutschen vermitteln?
Klaus Brill hat in 10 Jahren nicht nur das Tschechische und Polnische sich sprachlich angeeignet, sondern durch Reisen nach Königsberg/Kaliningrad, in hinterste Ecken von Bulgarien, vom Böhmerwald bis nach Ostpolen Länder kennen gelernt und mit Menschen gesprochen. Er hat mit umfangreicher Lektüre (siehe das Verzeichnis mit nur wenigen Lücken) die komplexe Geschichte z. B. der Polen, Letten, Tschechen, Sudetendeutschen ausgelotet, so dieses alt-neue Ostmitteleuropa erkundet und Erstaunliches entdeckt.
Dem Westeuropäer werden unbekannte Seiten der polnisch-litauischen Geschichte, die slawische Siedlungsgeschichte, die Tüchtigkeit mittelalterlicher deutscher Bergleute und die von modernen Nationalisten so um- und missgedeutete Geschichte des Deutschen Ordens gut lesbar nahegebracht. Zitate namhafter deutscher und internationaler Historiker aus den vergangenen 20 Jahren geben den 8 Großkapiteln ein solides Fundament. Es entsteht eine Problemgeschichte des in Mittel- und Westeuropa so unbekannten Ostmitteleuropas.
Als erstes präsentiert Brill eine neue Reiseroute: das „neue Italien“ von Masuren bis zu den Karpaten: prachtvoll restaurierte Renaissance-Häuser in Riga, gotische Altäre in der slowakischen Zips oder die zu neuem Glanz erweckte Warschauer Altstadt. Dann wendet sich der Autor der neuen Wirtschaftsordnung zu, nennt Oligarchen, aber auch den erstaunlichen Aufbau- und Innovationswillen, etwa in Lodz oder Warschau. In den Abschnitten über die politische Entwicklung und das kulturelle Leben beobachtet er freundlich-kritisch den mühsamen Weg der Länder aus der Diktatur zu durchaus unterschiedlichen (Zwischen-)Ergebnissen einer neuen Bürgerkultur: vom Runden Tisch und Lech Walesa in Polen über den Dissidenten-Präsidenten Václav Havel in der Tschechoslowakei, die „singende Revolution“ in Tallin, Orbans Rückwärtsgang in Ungarn bis hin zu den immer noch korruptionsgeschüttelten Bulgaren. Nützlich sind die fünf doppelseitigen Karten in der Buchmitte: Von 1589 bis 2014 sind vereinfacht aber stimmig-richtig, die geographischen und machtpolitischen Veränderungen des gesamten Raumes mit den wichtigsten Städten in der jeweils zeitgebundenen Schreibweise dargestellt (kleine tolerierbare Fehler, die Bildunterschriften zu den Farbfotos im Text z. T. etwas missverständlich).
Ein für die Zukunft Europas wichtiges Sozialkapitel beschreibt Brill ausführlich im Beitrag über die „Roma“ (S.123 ff.). Hier hätte ich mir jedoch die Berücksichtigung des Buches von Rolf Bauerdick (Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk, 2013) gewünscht. Ausführlich, mit ausgesprochener Empathie für die Unterdrückten schildert Brill die „Deutschen Kriegsverbrechen“ im 2. Weltkrieg, nennt Zahlen, Orte und blickt ebenfalls auf die vernichtete Welt der Schtetl. Bemerkenswert ist auch die zutreffende Darstellung der deutschen Vergangenheit in diesem Teil Europas.
Brill begegnet dem durch die politischen Kontroversen über die deutschen Heimatvertriebenen der letzten Jahrzehnte bestimmten Wahrnehmungsbereich kritisch: „Es ist wohl weniger die Entfernung, die eine Rolle spielt, als das (...) Desinteresse der Wessies an allem, was sie für ,den Ostenʻ halten. Wieso sollte es dort gotische Dorfkirchen und leuchtende Berge geben?“ (S.185). Mit ausgewogenen, mahnenden Worte im Schlusskapitel (S. 201 ff.) über die „Zukunftsmusik“ klingt dieser Reisebegleiter durch die ferne Nähe aus.
Dr. Otfrid Pustejovsky