Konrad H. Jarausch: Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter, aus dem Englischen von Thomas Bertram, Verlag wbg-Theiss Darmstadt 2018, 455 Seiten, 32 Illustrationen, ISBN 978-3-8062-3787-0, € 29,95.
Geschichte der Deutschen von „unten“ betrachtet
Beinahe 150 Jahre lang wurde Geschichte „von oben“ geschrieben: Regierungsprotokolle, Botschaftsberichte, Lebenserinnerungen politischer „Gestalter“ und so weiter.
Diese Betrachtungsweise hat in den vergangenen rund 20 Jahren eine grundlegende Veränderung erfahren: der deutsche „Historikerstreit“ von 1986/87 hat gezeigt, dass selbst Fachleute mit oft geradezu überschäumenden Gefühlsausbrüchen übereinander herfielen – Wissenschaft hin oder her!
Und so hat die Lesewelt mit großem Erstaunen 2018 die umfangreiche Darstellung des Amerika-Deutschen Konrad H. Jarausch „Zerrissene Leben“ aufgenommen und bemerkt, dass „große Geschichte“ auch an den Lebensbeispielen und dem Handeln einfacher „Zeitgenossen“ entwickelt werden kann. Jarausch hat auf 455 Seiten mit 17 „Hauptfiguren“, 21 „Nebenfiguren“ und 44 „Randfiguren“ das „Jahrhundert unserer Mütter und Väter“ von der Zeit der „Kaiserlichen Vorfahren“ bis über das Ende der DDR hinaus in 9 plus 1 Kapiteln dargestellt und alle Daten, Fakten, Ereignisse mit 802 kleingedruckten Anmerkungen auch belegt. Er hat somit über die „offizielle“ Geschichtsdarstellung hinaus ein buntschillerndes Porträt unserer Welt gezeichnet.
Der Autor führt somit auch in eine Zeit neuen Geschichtsverständnisses und damit die Notwendigkeit veränderter Sicht und Darstellung, die er so begründet:
„Meine Analyse der Ego-Dokumente von Durchschnittsdeutschen baut auf der Tradition der Alltagsgeschichte auf. (…) Statt von der Warte der großen Politik herabzublicken, versucht diese umgekehrte Perspektive, die Beziehungen der einfachen Leute von unten zu rekonstruieren. (…) Statt lediglich die Unterschiede zwischen den aufeinanderfolgenden Systemen des Deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des „Dritten Reichs“ sowie Ost- und Westdeutschlands aufzuzählen, zeigen sie, wie sehr individuelle Lebensentscheidungen mit Diktatur und Demokratie verquickt waren“.
Ohne hier zahlreiche Detailprobleme zu nennen, empfehle ich: Das Buch soll gelesen werden!
Dr. Otfrid Pustejovsky