László Krasznahorkai: Herscht 07769

Die Postleitzahl der Apokalypse

Der Plot ist so verrückt wie die Zeit, die der Roman beschreibt: In László Krasznahorkais Roman „Herscht 07769“ schreibt die Hauptfigur Florian Herscht Briefe an die Bundeskanzlerin Angela Merkel und will sie vor einem Denkfehler der Physik bewahren, der unmittelbar zur Apokalypse des Planeten führen müsse. Vergeblich wartet er auf Antwort, auch eine Reise nach Berlin hat nicht die erhoffte Wirkung. Er bleibt unerhört mit seiner vermeintlich rein wissenschaftlichen Prognose.

Doch die Apokalypse droht weniger von der naiv unverstandenen Quantenphysik, auf die sich die Titelfigur aus Thüringen bezieht, sondern vielmehr durch die Situation vor Ort in dem fiktiven Örtchen Kana mit der Postleitzahl 07769, in dem längst Neonazis die Stimmung vergiften. Dieser Florian ist ein wahrlich naiv verrückter Held (auf den ersten Blick ein „tumber Tor“ wie der Parzival von Wolfram von Eschenbach), ein hilfsbereiter Muskelprotz, dessen Verstand allerdings nicht viel Platz für Reflexion bereithält. Nach einem Gefängnisaufenthalt unterwirft er sich bedingungslos seinem „Boss“, der ein gnadenloser Neonazi ist und das Klima im Dorf immer mehr unterwandert hat. Da hilft auch die Liebe zur Musik Johann Sebastian Bachs nicht mehr, denn die wird von kaum jemandem mehr verstanden. Als das schlummernde Gewaltpotential sich plötzlich Bahn bricht und Florian sich als der Betrogene begreift, wird er zum brutalen Rächer an den Neonazis, die er jagt wie diese die Wölfe, die angeblich in Thüringen wieder ihr Unwesen treiben.

Der Sog der Geschichte entwickelt sich aus den unendlich langen Sätzen des Autors, die sich oft über Seiten hinweg ausbreiten, und den sprachlichen Wiederholungen sowie der simplen direkten Abfolge des Unausweichlichen. Das ist so simpel wie schockierend zugleich – und man glaubt als Leser plötzlich nicht mehr, dass dies nur Fiktion ist, sondern der wohl brutalste, aber beste Beschrieb der Gegenwart. Wie der Umschwung des alljährlichen Dorffests geschildert wird, auf dem sich plötzlich niemand mehr so richtig wohlfühlt, ja vielmehr ängstigt, das ist ebenso beklemmend, wie der schleichende Prozess, wie aus der Zuneigung eines pensionierten Lehrers zu Florian unbegründete Ablehnung wird.

Unzählige Beobachtungen, die so alltäglich wie selbstverständlich scheinen, entwickeln ein Panoptikum über eine alte Kulturlandschaft, die in der Gegenwart implodiert, weil sie nichts Verbindendes für die Menschen mehr bereithält. So stellt man sich soziale Isolation vor.

Dass es ausgerechnet ein ungarischer Autor ist, der unsere deutsche Gegenwart so treffend schildert, zeigt vielleicht einmal mehr, wie blind wir oft vor der eigenen Realität stehen. Krasznahorkai hat zahlreiche erschütternde Geschichten über die Gegenwart beschrieben, in denen verrückte, aber liebenswerte Außenseiter mit der Welt fremdeln, aber nun schildert er Thüringen, als lebe er wirklich vor Ort und sei kein Beobachter aus Ungarn. Oder ist Thüringen überall in Europa, wo das Soziale auf dem Land in Kälte umschlägt? Der Roman ist keine ganz leichte Kost, aber die Sympathien für die naive Hauptfigur, die zugleich ins widerwärtig Brutale kippt, haben mich die 400 Seiten atemlos verschlingen lassen. Geschockt bleibt der Leser aber zurück, denn wenn die Fiktion des Romans nur einen Kern von Wahrheit in sich trägt, dann müssen wir als Gesellschaft die Methoden erst noch wieder erfinden, dieser Sozialstudie etwas wie Hoffnung entgegenzusetzen.

Rainer Karlitschek

László Krasznahorkai: Herscht 07769. Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Heike Flemming, S. Fischer Verlag Frankfurt/Main 2021, 416 Seiten, ISBN 978-3-10-397415-7, 26,00 €.