Manfred Flügge: Stadt ohne Seele. Wien 1938, Aufbau Verlag Berlin 2018, 479 Seiten, ISBN 978-3-351-03699-7, € 25,00.
Feuerzeichen am Himmel
1918, das Kriegsende des ersten Kriegsgemetzels im 20. Jahrhundert, wird im Jahr 2018 wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Wie sieht es aber mit 1938 aus? Wird hier erkannt, dass mit dem März und September 1938 die größte Weltkatastrophe begann, von der sich weder Einzelne, Völker noch Staaten bis heute wirklich „erholt“, geschweige denn diese „überwunden“ haben?
Es begann in Wien, und daher hat der 1946 als ostpreußischer Flüchtlingsjunge in Dänemark geborene Manfred Flügge ein Kaleidoskop der Märzereignisse 1938 in Wien entwickelt. Danach sei die Donaumetropole eine „Stadt ohne Seele“ gewesen und bis in die Nachkriegszeit geblieben. In 20 Großkapiteln zeichnet Flügge zahlreiche Porträts der NS-Führung in Berlin, der handelnden Politiker in Wien. Er skizziert den nationalistisch aufgeheizten Mob der Vorstädte, das nichtsahnende Bürgertum, das pseudonormale Leben der Intellektuellen und das jähe Erwachen nach der militärischen Besetzung Österreichs. Es ist kein übliches „Geschichtsbuch“, sondern eine Darstellung des Gesellschafts- und Politikgeschehens in der ganzen Komplexität der seit 1918 weitgehend unaufgearbeiteten Geschichte des kleinen „Nachfolgestaates“ der Habsburger Monarchie; gleichzeitig aber auch ein gut lesbares Nachschlagewerk zu den „Liebedienern“ der NS-Herrschaft bis zu den Vollstreckern der Diktatur. Trotz aller Gründlichkeit sind dem Verfasser jedoch Bedeutung, Personen und Komplexität des österreichischen, aus böhmisch-mährischen „Wurzeln“ hervorgegangenen Widerstands gegen die NS-Herrschaft entgangen: in nur sieben Zeilen (S. 282) wird ungenau auf „den Priester Roman Karl Scholz“ verwiesen. Insgesamt ein wichtiges, gut lesbares Buch!
Dr. Otfrid Pustejovsky