Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt, Reclam Verlag Stuttgart 2018, 323 Seiten, 6 Abb., ISBN 978-3-15-011159-8, € 28,00.
Der „Frühling“ und seine Anfänge
Allzu oft wird diese Geschichte des Prager Frühlings vom Tag der Invasion aus erzählt. Im Licht des 21. August erscheint sie dann als eine Geschichte des Scheiterns. Martin Schulze Wessel nimmt hingegen einen anderen Weg. Er fokussiert sein Interesse auf die programmatischen Anfänge der Reformkommunisten. Was er dabei findet, sind die fundamentalen Triebkräfte eines Erneuerungsprozesses, der alle Lebensbereiche umfasst: ein fundierter Entwurf von der Zukunft der Nation sowie die rückhaltlose Abrechnung mit den kommunistischen Verbrechen der Vergangenheit. Beides zusammen, Vision und Moral, so der Münchner Osteuropa-Historiker, machten den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu dem singulären Ereignis, das weit über seine kurze Epoche hinausweist.
Die Dubček-Agenda reicht bis in die frühen sechziger Jahre zurück. Unter dem Druck einer schweren Partei- und Politikkrise waren schon zu Novotný-Zeiten neue Freiräume für neues Denken entstanden. Die von Eduard Goldstücker initiierte internationale Kafka-Konferenz von 1963 setzte das Signal für den kulturellen Aufbruch und die intellektuelle Öffnung. Federführend waren herausragende Köpfe in der Akademie der Wissenschaften. Radovan Richta entwarf in seinem Report „Zivilisation am Scheidewege“ die Grundzüge einer von Kybernetik und Automatisierung geprägten und zugleich humanen Gesellschaft. Ota Šik suchte in einer neuen Balance von „Plan und Markt“ den Ausweg aus der strukturellen Krise der Wirtschaft. Zdeněk Mlynář und sein Team „Staat und Recht“ formulierten fundamentale Elemente der Versöhnung von Sozialismus und Demokratie: Pluralismus, Gewaltenteilung, Bürgerrecht und Freiheit. Sie zogen damit die historischen Lehren aus Schauprozessen, Klassenjustiz und Staatswillkür der Vergangenheit. Sie stellten zugleich die Machtfrage: „Wie hältst Du’s mit der führenden Rolle der Partei?“
Alle diese Pläne und Projekte konnten den Praxistest nicht wirklich durchlaufen. Dennoch – oder eben deshalb? – erwies sich der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ als Slogan mit massensuggestiver Kraft. Dubček war sein Idol, dem 80 Prozent der Tschechen und Slowaken vertrauten. Mit ihm fanden sie auf neuer moralischer Grundlage zu sich selber und zueinander, zu nationalem Stolz und Selbstbewusstsein: Der standhafte Jan Hus statt des braven Schwejk. Anschaulich schildert der Autor die mediale Dynamik, die basis-demokratische Debattenkultur, die ihresgleichen in Europa nicht hatte. Gewerkschaften und Blockparteien emanzipierten sich mit neuen Männern und Programmen. Allenthalben sprossen neue oder verbannte Klubs und Vereine aus der Mitte der Gesellschaft hervor. Endlich konnten sich die Slowaken auf gleicher Augenhöhe fühlen mit ihren tschechischen Verwandten. Ein innerkommunistischer Führungskonflikt hatte sich binnen Wochen in eine demokratische Volksbewegung verwandelt.
Was blieb davon? Die Samtene Revolution von 1989? Sie speiste sich, so auch Schulze Wessels Fazit, aus anderen Quellen: Antikommunismus war die Devise, der Westen das Programm. Eigene Wege wurden nicht diskutiert. Und doch war Dubčeks kurze Wiederkehr aus dem slowakischen Exil weniger Nostalgie als Inspiration: eine lebhafte Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, wenn Menschen aufbrechen, um ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Hans Jürgen Fink