Matěj Spurný: Der lange Schatten der Vertreibung. Ethnizität in tschechischen Grenzgebieten (1945-1960), aus dem Tschechischen von Andreas R. Hofmann. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, Band 27, Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2019, 340 Seiten, 64 Abb., ISBN 978-3-447-11186-7, € 38,00..
Schatten der Landnahme
E s ist keinesfalls selbstverständlich, dass ein wissenschaftliches Werk den Leser fesselnd in den Bann zieht. Hier gelingt dem Verfasser das allerdings.
Matěj Spurný beschreibt die gewaltsame, erzwungene, nahezu vollständige Umwandlung einer in Jahrhunderten gewachsenen Kulturlandschaft. Im Wesenskern wird der Prozess einer Landnahme mit allen dazu gehörenden zentralen Aspekten wie Entvölkerung, hier durch Flucht und Vertreibung der Deutschen, Aneignung ihrer materiellen Besitztümer aller Art, Neupeuplierung, ideologisch und historisch begründete Legitimierung, Verwandlung des Raumes durch symbolische Zeichensetzung wie die Errichtung von Denkmälern und planmäßige, flächendeckende sprachliche Umbenennungen auf allen Ebenen in der betroffenen Region seit 1945 beschrieben.
Unabhängig von der sonstigen politischen Ausrichtung existiert 1945 und langzeitig danach in der tschechischen Gesellschaft ein Konsens, der die sofortige (zumindest fast) vollständige Vertreibung der Deutschen aus der gesamten Tschechoslowakei befürwortete und auch durchzuführen vermochte. Dieser Radikalismus ist nur erklärbar mit der weite Teile der Gesamtbevölkerung der Tschechoslowakei erfassten Radikalisierung der 1930er Jahre, also parallel die der Sudetendeutschen, Slowaken, Ungarn, Polen und auch Ruthenen/Ukrainer bedingt durch Weltwirtschaftskrise und die Politik des Dritten Reiches. Nach dem Münchner Abkommen und der Zerschlagung des Staates 1938/39 war zumindest zwischen Deutschen und Tschechen auf breiter Basis jeder Konsens aufgezehrt.
Ein Schwerpunkt der vorliegenden Studie ist die Geschichte der beiden prägnantesten ethnischen Gemeinschaften, die nach 1945 in das Sudetenland kamen und deren Lebenswelten dort bis in die Gegenwart hinein kaum unterschiedlicher sein konnten – die Wolhynientschechen und die Roma.
Während die Wolhynientschechen aufgrund ihrer leidvollen Erfahrung mit Bolschewiki und Roter Armee meist antikommunistisch eingestellt und zudem tief von evangelischen Frömmigkeitsformen und einer konservativen dörflichen Gemeinschaft geprägt waren, kann man im Kontrast zu ihnen die entwurzelten Milieus der Roma aus Innerböhmen, die maßgeblich bei Gewalt, Vandalismus und Plünderung partizipierten, sehen.
Die hier geschaffene Studie kann so als Grundlagenwerk zum Thema planmäßige Vertreibung und systematische Landnahme des Sudetenlandes durch die tschechische Seite bezeichnet werden. Der Rezensent wünscht sich, dass weitere ähnliche Studien zu den weiteren Entwicklungen unter diesen Aspekten in diesem Raum zwischen 1960 und 1989 und bis in die Gegenwart folgen werden. Denn bis heute ist der große Bruch der Jahre seit 1945 im historischen Sudetenland auf Schritt und Tritt sichtbar.
Ein tiefes Problem für die heutige Tschechische Republik ist nach wie vor die erkennbar fragmentierte Gesellschaft in den seit 1945 „neugewonnenen“ Gebieten mit geringerer Ortsbindung, schwächeren bürgerlichen Bevölkerungsgruppen und einem weiterhin häufig verwahrlosten ländlichen Raum. All dies war bereits in den 1950er Jahren ein verbreitetes Phänomen, wie der Verfasser im Detail analysiert.
Ein wichtiges noch zu vertiefendes Thema wäre die Nichtetablierung neuer kirchlicher Strukturen aller Art nach der Vertreibung des gesamten deutschen Klerus. Direkte Folge davon ist auch heute, dass das historische Sudetenland eine der höchsten prozentualen Anteile von Atheisten in Europa von über 80% aufweist und somit auch die gewachsenen konfessionellen Strukturen des Raumes nach 1945 nachhaltig und dauerhaft zerstört wurden. Verstärkt wurde dieser Vorgang gerade in den Gebieten des Neuen Wilden Westens durch das Phänomen einer ohnehin bereits im 19. Jahrhundert rasch wachsenden Entkirchlichung der tschechischen Gesellschaft.
Dr. Meinolf Arens